Mit dieser aus einer Dissertationsschrift hervorgegangenen Monografie setzt sich Constanze Weiske ein politisches, kein historiografisches Ziel. Es geht ihr explizit darum, die Forderungen nach Reparationen von Indigenenverbänden aus Venezuela, Guyana, Surinam, Trinidad und Tobago zu unterstützen und ihnen Argumente vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu liefern. Der juristische Zankapfel ist die Frage, was denn die Applizierung des Intertemporalitätsprinzips in der rechtlichen Beurteilung der europäischen Kolonisation in dieser Region bedeute. Die Gegner der Indigenenverbände argumentieren, die Kolonisation könne zwar aus heutiger Sicht moralisch verurteilt werden, sei jedoch aus damaliger Sicht legal gewesen. Weiske möchte dieses Argument entkräften und zeigen, dass die Kolonialexpansion im Norden Südamerikas, auch an damaligen Standards gemessen, illegal war. Drei Argumente zugunsten der Rechtmäßigkeit der Kolonialexpansion werden dekonstruiert: Weiskes These ist, dass sich keinerlei Herrschaftsrechte aus 1. der »Entdeckung« neuer Länder, 2. den Eroberungen sowie 3. der Besiedlung und Nutzbarmachung von manchen Territorien ergeben hätten. Um die Legalität der kolonialen Aneignungen einzuschätzen, vergleicht sie Aneignungspraktiken mit Rechtsprinzipien, die sie im spanischen Falle vor allem aus den Schriften des Naturrechtstheoretikers Francisco de Vitoria und teilweise aus päpstlichen Bullen und königlichen Gesetzen und im Falle der Niederländer vor allem aus den Abhandlungen von Hugo Grotius ableitet.
In dieser Rezension soll nicht die Stichhaltigkeit der rechtswissenschaftlichen Argumentation überprüft, sondern nur eine Einschätzung der Monografie aus geschichtswissenschaftlicher Sicht vorgenommen werden. Aus historiografischer Perspektive bringt das primär politische Anliegen des Buches einige Erkenntnisse, aber auch eine Reihe von Lücken und Verzerrungen mit sich. Am überzeugendsten sind die Kapitel zur niederländischen Kolonialexpansion und ihrer rechtlichen Beurteilung durch Zeitgenossen. Weiske kann deutlich nachweisen, dass das Terra nullius-Argument (die Ableitung von Herrschaftsrechten aus der Nutzbachmachung unbewohnten Landes) bereits von den allermeisten Zeitgenossen – Spaniern, Niederländern wie auch darüber hinaus – verworfen wurde. Die einzige europäische Nation, die des Öfteren auf dieses Argument zurückgriff, waren die Engländer, aber auch diese erachteten es für nötig, Kaufverträge mit Indigenen abzuschließen, womit sie die Herrschaft indigener Fürsten anerkannten. Auch erscheint es deutlich, dass Niederländer in Guyana nicht den Anspruch hatten, eine Jurisdiktion über indigene Bevölkerungen zu üben, die außerhalb der ohnehin relativ bescheidenen Kolonien lebten. Die Autorin überzeugt, wenn sie die im 18. Jahrhundert noch minimale europäische Präsenz in der Region betont und somit zeigt, dass die Europäer auch an den Prinzipien von Grotius oder des englischen Common Law gemessen nur an einigen Orten Besitzrechte durch Ansiedlung erworben hätten. In den Kapiteln zu Spanien kann Weiske geltend machen, dass das Prinzip, wonach Spanier und Portugiesen Herrschaftsrechte aus ihren »Entdeckungen« ableiten könnten, in ganz Europa, an der Kurie und in Spanien selbst höchst umstritten war. Auch überzeugt der Hinweis darauf, dass in der Regel die Verbreitung des Evangeliums an sich nicht als ausreichender Grund für eine gerechte Eroberung von fremden Territorien galt. Schließlich ist sicherlich der Autorin beizupflichten, wenn sie die geringe spanische Präsenz in vielen Territorien unterstreicht und die großen Schwierigkeiten, auf die die spanische Expansion in der Region stieß.
All diese Tatsachen sind an sich richtig, doch auch nicht wirklich neu, was den Wert des Buches aus geschichtswissenschaftlicher Sicht deutlich mindert. Vor allem aber bringt die Priorisierung der politischen gegenüber den geschichtswissenschaftlichen Zielen einen Verlust an analytischer Schärfe mit sich. Die rechtshistorischen Diskurse in Vitoria, Grotius oder den päpstlichen Bullen werden nicht kontextualisiert, sodass die polemischen Wirkungsabsichten und die damaligen Kontroversen unbeleuchtet bleiben. Historisch Interessierte werden hier kaum Informationen gewinnen, die es ihnen ermöglichen, diese Quellen zu interpretieren. Die Autorin kanonisiert die frühneuzeitlichen rechtstheoretischen Texte, anstatt sie kritisch zu betrachten: Sie setzt einfach die Inhalte dieser Quellen mit dem damaligen Recht gleich und vernachlässigt somit auch die Tatsache, dass deren Autoren sich gegen rechtliche Praktiken wandten, die zahlreichen Zeitgenossen als legitim betrachteten.
Ein weiteres Problem lautet, dass Weiske die Komplexität und Bandbreite der europäisch-indigenen Begegnungen und Interaktionen auf ein beinahe rein konflikthaftes Aufeinanderprallen reduziert. Um zu demonstrieren, dass Indigene niemals die Herrschaft der Europäer akzeptiert hätten, baut die Autorin – trotz gelegentlicher Verweise auf indigene Verbündete europäischer Mächte – eine Dichotomie zwischen Indigenen und Europäern auf, die so nicht zu halten ist. Man erfährt im Endeffekt so gut wie nichts über die Konflikte zwischen indigenen Akteuren, ihre unterschiedlichen Zielsetzungen und Strategien sowie das komplexe politische Spiel in der Region, an dem Europäer teilnahmen.
Am wenigsten überzeugen die Kapitel zu der Geschichte der katholischen Missionsgebiete. Damit keine Herrschaftsrechte aus dem Aufbau von Missionen durch katalanische Kapuziner im heutigen Venezuela abgeleitet werden können, entwickelt die Autorin ein deutlich verzerrtes Bild dieser Reduktionen. Erstens suggeriert sie, die Missionare hätten nicht im Auftrag der Krone gehandelt. Zwar stimmt es, dass im Rahmen der »Conquista espiritual« die spanischen Könige nur eine indirekte Herrschaft über die amerikanischen Grenzländer ausübten und die Missionsgebiete eine weitgehende Autonomie besaßen. Dennoch ist es problematisch, polemische Quellen gegen die Missionare zu benutzen, um – wie die Autorin es tut – zu argumentieren, die Kapuziner hätten unabhängige politische Gebilde gegründet. Zweitens behauptet Weiske, die Kapuziner hätten ihre Reduktionen rein durch »violent removal« der lokalen Bevölkerung aufgebaut. Sie lässt dabei vollkommen im Unklaren, wie denn Mönche ohne Armee dies hätten erreichen können, und tut der Komplexität der Beziehungen zwischen Missionaren und den konvertierten Indigenen, die in den Missionsgebieten lebten, Unrecht. Drittens lässt sie die Tatsache beiseite, dass die Bevölkerung der Reduktionen zur Zeit der bolivarischen Revolution – die freilich außerhalb des Untersuchungsraums liegt – sich gegenüber der spanischen Krone loyal verhielt. So muss leider festgestellt werden, dass es der Geschichtswissenschaft nicht wohl bekommt, wenn sie der Politik dienstbar gemacht wird – selbst wenn die Intention gut ist.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Damien Tricoire, Rezension von/compte rendu de: Constanze Weiske, Lawful Conquest? European Colonial Law and Appropriation Practices in Northeastern South America, Trinidad, and Tobago, 1498–1817, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2021, 343 S., 16 Abb. (Dialectics of the Global, 12), ISBN 978-3-11-068999-0, EUR 79,95., in: Francia-Recensio 2022/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90534