Während heute wieder ungefähr 53 000 Tiere existieren, waren Steinböcke Ende des 19. Jahrhunderts beinahe ausgestorben. Bereits seit dem Spätmittelalter waren sie zunehmend gefährdet. Eine der wenigen Ausnahmen war das hintere Zillertal im Tirol, das Andreas Zechner in seiner Studie untersucht. Dort existierte Ende des 17. Jahrhunderts noch eine Population von ungefähr 180 Tieren. Dass diese innerhalb kürzester Zeit, nämlich bis spätestens 1711, verschwand, wurde lange durch Legenden und Mythen erklärt. Zechners Studie untersucht erstmals die historischen Gründe für das Aussterben der Steinböcke im Zillertal. Dazu verwendet er einen interdisziplinären Ansatz, der sowohl menschliche als auch klimatische Bedingungen als historische Wirkmächte berücksichtigt. Methodisch verortet sich die Studie damit zwischen den Human-Animal Studies und der Klimageschichte. Zechner stützt sich vor allem auf Quellen aus den Salzburger und Tiroler Landesarchiven, wie Sitzungsprotokolle der zuständigen Jagdbehörde, Aktenbestände der Hofkammer sowie Polizei- und Pfleggerichtsakten. Ergänzt werden diese Quellen durch nachträgliche naturwissenschaftliche Aufzeichnungen. Während diese Quellen Rückschlüsse auf die anthropogenen Faktoren geben, die zum Aussterben der Steinböcke geführt haben mochten, werden die natürlichen Faktoren, insbesondere die Witterungsbedingungen, anhand von Forschungsergebnissen aus der Klimageschichte, sowie zeitgenössischen Tagebüchern, Chroniken, Zeitungen und Verwaltungsakten rekonstruiert. Im Anschluss werden die Auswirkungen dieser Bedingungen auf die Steinböcke untersucht, indem die Mechanismen, die in der heutigen Literatur über die Wildtiere eine Rolle spielen, auf das 17. und 18. Jahrhundert übertragen werden.
Neben der Einleitung ist das Buch in drei weitere Einheiten gegliedert. Teil zwei stellt die Rahmenbedingungen dar, unter denen Steinböcke im frühneuzeitlichen Europa lebten. Dass es seit dem Spätmittelalter immer weniger von ihnen gab, wird mit Verweis auf die Literatur mit der sogenannten kleinen Eiszeit, der Ausweitung der Almwirtschaft, Krankheiten und der Bejagung durch den Menschen erklärt. Letzteres geschah unter anderem wegen der magischen Schutz- und Heilwirkung, die dem Steinbock zugeschrieben wurde. Im Zillertal wurde ein Rückgang der Steinbockpopulation durch die Schon-Verordnungen verhindert, die Johann Ernst Graf von Thun erließ, der Erzbischof, der im Untersuchungszeitraum 1687–1711 Jagdherr des Gebiets war. Dieser erhöhte die Anzahl der Jäger, die mit dem Schutz des Zillertals vor Wilderern betraut waren. Zudem wurde die Alpbeweidung mit Ziegen und Schafen eingeschränkt, um Futterkonkurrenz und die Übertragung von Krankheiten zu vermeiden. Zechner geht davon aus, dass die Steinbockpopulation dank dieser Maßnahmen bis 1694 sogar deutlich anstieg. Für die Zeit danach sind keine Zahlen mehr verfügbar, erst ein Protokoll von 1711 legt nahe, dass die Population in der Zwischenzeit trotz ihrer Größe ausgestorben sein musste.
Im dritten Teil geht Zechner auf die anthropogenen Einflüsse ein, die beim Verschwinden der Population eine Rolle gespielt haben könnten. Die viel zitierte Wilderei weist er aufgrund mangelnder Quellenbelege als mögliche Ursache zurück. Eine weitere Bedrohung der Steinböcke war die Jagd durch den Erzbischof. Dieser ließ auch immer wieder Tiere lebend einfangen, um sie in seinen Tiergarten in Hellbrunn zu bringen. Außerdem versuchte er 1698 eine neue Steinbockkolonie im Tennengebirge zu gründen und entnahm dafür Tiere aus dem Zillertal. Basierend auf einer Populationsprognose, die sowohl bekannte als auch geschätzte Zahlen zu gewilderten, gejagten und gefangenen Tieren miteinbezieht, geht Zechner davon aus, dass insbesondere diese Fangjagden den Bestand markant reduziert haben müssen. Seine Berechnungen ergeben aber auch, dass die Zillertaler Population 1708 noch ungefähr 106 Individuen umfasst hat. Dass sie nur drei Jahre später vollständig zusammenbrach, kann Zechner zufolge also nicht allein mit anthropogenen Einflüssen erklärt werden, auch wenn sie durch diese bereits an den Rand ihrer Überlebensfähigkeit gebracht worden war.
Im vierten Teil beschreibt Zechner, welchen Einfluss natürliche Umstände auf diesen Restbestand gehabt haben könnten. Dazu gehört insbesondere der »Große Frost« im Winter 1708/1709, in dem die Temperaturen drastisch sanken und die Niederschlagsmengen anstiegen. In den Zillertaler Alpen habe dies einen früheren Wintereinbruch und höhere Schneedecken zur Folge gehabt, sodass die Steinböcke weniger Fettreserven anlegen konnten. Dass die Schneefälle im Frühjahr so lange anhielten, musste schließlich dazu geführt haben, dass viele Tiere, weil sie nicht rechtzeitig neue Nahrung fanden, den Hungertod starben. Dazu kam ein erhöhtes Unfallrisiko durch Lawinen und vereiste Oberflächen. Abschließend stellt Zechner also fest, dass eine Mischung aus anthropogenen Faktoren und meteorologischen Bedingungen für das Aussterben der Zillertaler Steinböcke verantwortlich gewesen sein müsse.
Insgesamt ist Zechners Buch eher eine klimageschichtliche als eine tiergeschichtliche Studie. Während vor allem im dritten Teil die Wetterbedingungen äußerst weitläufig beschrieben werden, erscheinen die Steinböcke selbst weniger als Akteure der Geschichte, denn als Opfer menschengemachter und klimatischer Bedingungen. Auch eine Durchbrechung der Kategorien »Kultur« und »Natur«, ein zentrales Anliegen vieler tiergeschichtlicher Ansätze, lässt sich bei Zechner nicht ausmachen. Eben diese Kategorien strukturieren vielmehr sein Buch. Wer sich allerdings dafür interessiert, wie sich vergangene Wetterphänomene auf die zeitgenössische Tierwelt ausgewirkt haben mochten, findet bei Zechner viele interessante methodische Ansätze. Es bliebe vielleicht zu fragen, ob sich die Erkenntnisse gegenwärtiger Forschungen zu Steinwildpopulationen eins zu eins auf die historischen Tiere übertragen lassen. Außerdem vermisst die Rezensentin eine Auseinandersetzung mit kritischen Stimmen zu einzelnen Klimahistorikern. Dies gilt insbesondere für Wolfgang Behringer, dessen »zuweilen deterministisch anmutenden« Argumente Zechner zwar kurz anspricht (S. 23), auf den er aber trotzdem immer wieder verweist. Behringer wurde dafür kritisiert, dass er durch seinen eurozentrischen Ansatz, sowie einen unsauberen Umgang mit der Literatur den Eindruck erweckt, dass die globale Erwärmung im Vergleich zu vergangenen klimatischen Bedingungen harmlos sei1. Dabei zeigt gerade Zechners Studie, wie heikel die Rekonstruktion klimatischer Auswirkungen der Vergangenheit ist. So spricht er selbst von einem »zugebenermaßen hypothetischen Charakter« seiner Annahmen (S. 224). Die schlechten meteorologischen Bedingungen sind bei Zechner zudem nur ein Faktor, der ohne den menschlichen Einfluss nicht zu einem Aussterben der Steinböcke geführt hätte. Dieses insgesamt überzeugende Ergebnis ist vor allem seinem akribischen Umgang mit dem Quellenmaterial zu verdanken, aber auch dem Versuch, mit Hilfe von interdisziplinären Ansätzen zu verstehen, wie sich verschiedene Einflüsse in der Geschichte nicht nur auf den Menschen, sondern auch auf die Tierwelt ausgewirkt haben.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Aline Vogt, Rezension von/compte rendu de: Andreas Zechner, Steinbock, Mensch und Klima. Das Ende der letzten autochthonen Steinwildpopulation der Ostalpen im Zillertal, 1687–1711, Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2022, 280 S., 37 Abb. (Umwelthistorische Forschungen, 10), ISBN 978-3-412-52396-1, EUR 50,00., in: Francia-Recensio 2022/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90535