Jüngste historische Forschungen arbeiten derzeit an einer Neubewertung der Geschichte des Deutschen Kaiserreichs und des Kolonialismus, unter anderem auch um das bisweilen immer noch verharrende deutsche Sonderweg-Narrativ endlich überwinden zu können. Verbunden sind diese Bemühungen mit dem Gedeihen globalhistorischer Ansätze in der deutschen Geschichtsschreibung und der »Wiederentdeckung« des 19. Jahrhunderts für die Analyse der Moderne. Auch der vorliegende Band schreibt sich in diese Entwicklungen ein, nimmt dabei aber eine Perspektive ein, die besonders Forscherinnen und Forscher der deutsch-französischen Geschichte interessieren sollte.
Mit »De la Prusse à l’Afrique« präsentiert de Gemeaux eine überzeugende Studie des deutschen Kolonialgedankens in der longue durée – von seinen Ursprüngen im nationalen Diskurs der deutschen Romantik im frühen 19. Jahrhundert über die koloniale Argumentation der kontinentalen sowie überseeischen Expansionsbemühungen in der Zeit des imperialen Kaiserreichs bis zu den bis heute andauernden postkolonialen, transimperialen politischen Ordnungsbemühungen. Um die Ideengeschichte des deutschen Kolonialismus nachzeichnen zu können, hat de Gemeaux aufmerksam die Schriften einzelner deutschsprachiger Denker und Autoren, aber auch Autorinnen, gelesen, deren Wirken im Kontext des deutschen Imperialismus bisher noch wenig beachtet wurde. De Gemeauxs Analyse offenbart dabei eine hohe interpretatorische Feinfühligkeit bei der Lektüre der historischen Texte.
Die Hauptthese reiht sich zunächst in den etablierten Forschungsstand der Imperialismusforschung ein, indem sie den deutschen Nationalismus als Voraussetzung für die koloniale Idee bezeichnet, der letztere zwar nicht unausweichlich machte, aber stark begünstigte1. Innovativ ist dagegen der zweite Schritt der These von de Gemeaux: Für die historische Entstehung und Ausformung des spezifisch deutschen Nationalismus, und daran gebunden des deutschen Kolonialismus, sei das Nachbarland Frankreich als permanente Gegenfolie, als »principal repoussoir et […] stimulant« (S. 319), wesentlich gewesen.
Das Buch ist in vier grob chronologisch angeordnete Abschnitte eingeteilt. Der erste beschäftigt sich mit der deutschen Romantik und der Entstehung eines spezifisch deutschen Patriotismus und Nationalismus. Der zweite Teil des Buchs widmet sich dem kontinentalen Kolonialismus, sowohl im Osten als auch im Westen Europas, in der Zeit nach der deutschen Reichsgründung. Abschnitt drei nimmt den deutschen kolonialen Diskurs über Afrika in den Blick, aber verschiebt die Perspektive auf die Erzählungen von Frauen. Der vierte und letzte Teil ergründet schließlich transimperiales Kolonialdenken im 20. und 21. Jahrhundert in Deutschland nach dem Verlust der Kolonien.
Die Entstehung einer deutschen Öffentlichkeit, organisiert in bildungsbürgerlichen Geselligkeitskreisen des frühen 19. Jahrhunderts, bildet die soziale Ausgangssituation, in welcher de Gemeaux ihren Untersuchungsgegenstand – den politischen Diskurs – verortet (Kapitel 1). Zunächst patriotisch im Ton, entwarfen Denker der Romantik wie der Philosoph und Staatstheoretiker Adam Müller in Reaktion auf die napoleonische Herrschaft eine organische Vorstellung von Nation, verstanden als religiös und kulturell überformte Bestimmung (Kapitel 2). In seiner dialogischen Auseinandersetzung mit der Frage des (gerechtfertigten) Krieges gewann dieser nationale Diskurs an gefährlicher Schärfe: kriegerische Gewalt wurde Teil der nationalen Berufung, der Eroberungskrieg ein legitimes Unterfangen (Kapitel 3).
Einen großen zeitlichen Sprung machend, erörtert de Gemeaux im zweiten Teil ihres Buchs deutsches »Weltstreben« im Spannungsfeld zwischen festländischem und überseeischem Imperialismus nach dem französisch-preußischen Krieg und der Reichsgründung. Nach einem allgemeinen Kapitel über deutsch-imperiale Raumvorstellungen und Germanisierungspläne auf dem europäischen Kontinent, besonders im Elsass und in Posen (Kapitel 4), widmet sich de Gemeaux wiederum einem Architekten der kolonialen Idee, und zwar dem preußischen Juristen und Staatsdiener Friedrich Curtius, seinem Walten im Elsass und seiner Bedeutung für die staatliche Administration des Kaiserreichs (Kapitel 5). Der Blick auf diese wenig bekannte, aber bedeutende Persönlichkeit erlaubt ihr, den nun staatlich sanktionierten und meist juristisch argumentierten Kolonialismus von der elsässischen Peripherie her zu erkunden. Eine Untersuchung der Berliner Afrika Konferenz von 1884/1885, die laut de Gemeaux ein dezidiert deutsch-französisches Unterfangen war, fokussiert erneut den deutschen Nationalismus und schreibt das imperiale Streben Bismarcks in eine Logik der internationalen Sicherheitspolitik ein (Kapitel 6).
Im dritten Teil ihres Buchs folgt de Gemeaux drei bürgerlichen, weißen, deutschen Frauen nach Afrika. De Gemeaux hat nicht den Anspruch, die Geschichte der deutschen Kolonialpolitik und ihrer (männlichen) staatlichen und militärischen Hauptakteure vor Ort neu zu erzählen. Vielmehr sucht sie »des éclairages inédits à partir de témoignages féminins« (S. 158). In zwei Kapiteln kann sie so in den vornehmlich »privaten«, fiktionalisierten biografischen Darstellungen dieser Frauen herausarbeiten, wie diese den inzwischen stark rassifizierten, biopolitischen deutschen Nationsbegriff und damit einhergehende eliminatorische Germanisierungsfantasien mitkonstruierten (Kapitel 7 und 8).
Schließlich widmet sich de Gemeaux im letzten Abschnitt der postkolonialen Zeit, dem Übergang von einer direkten politischen Einflussnahme zu anderen, transimperialen soft power-Formen des kolonialen Denkens. Auch hier nimmt sie sowohl die ehemaligen Kolonien in Afrika (Kapitel 10 und 13) als auch die ehemaligen Herrschaftsgebiete in Europa (Kapitel 11 und 12) in ihre Diskursanalyse auf. Überraschenderweise komplett ausgelassen bleibt jedoch die Zeit des Nationalsozialismus, die inzwischen vermehrt im analytischen Rahmen des Kolonialismus verhandelt wird2.
Das Buch ist eine Zusammenführung allesamt bereits veröffentlichter Artikel der Autorin und stellt somit das Ergebnis ihrer jahrelangen ideenhistorischen Forschung zum deutschen Kolonialismus dar. Zwar wird die Leserin durch knappe Einführungen jeweils zu Beginn der vier Teile angeleitet, aber der Eindruck bleibt bestehen, dass die Einzelkapitel zum Teil etwas disparat nebeneinanderstehen. Dennoch ist das Buch in seiner Gesamtheit eine Lektüre wert. Der besondere Verdienst von »De la Prusse à l’Afrique« ist die Zusammenschau verschiedener Stoßrichtungen des deutschen Kolonialismus – dem kontinentalen (und zwar sowohl gen Ost- als auch gen Westeuropa) wie auch dem überseeischen. Zudem betrachtet de Gemeaux diesen in der langen Zeitspanne vom frühen 19. Jahrhundert bis heute und unterstreicht die Bedeutung deutsch-französischer Auseinandersetzungen bzw. Beziehungen für die Entwicklung nationalen und kolonialen Denkens. Damit hilft sie, den Blick auf das Phänomen deutscher Kolonialismus zu weiten und sein heutiges Erbe tiefenhistorisch einzuordnen. Da diese Diskussionen derzeit größtenteils im anglo-amerikanischen und deutschen Raum geführt werden, bleibt zu hoffen, dass das Werk bald übersetzt wird und mehr Beachtung findet.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Marie Muschalek, Rezension von/compte rendu de: Christine de Gemeaux, De la Prusse à l’Afrique. Le colonialisme allemand, XIXe‑XXIe siècle, Tours (Presses universitaires François-Rabelais) 2022, 348 p. (Civilisations étrangères), ISBN 978-2-86906-802-5, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2022/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90610