»Das Kind braucht Sonne – Luft – Wasser« war auf einem Plakat des Deutschen Hygienemuseums in Dresden von 1925 zu lesen (S. 275). Mit diesem Plakat warb das Museum bei Müttern um ein gesundheitsförderndes Verhalten gegenüber ihrem Kind. Das Deutsche Hygienemuseum in Dresden sowie der Reichsausschuss für hygienische Volksbelehrung waren die zentralen Institutionen während der Weimarer Republik, die mit diesem und anderen Plakaten, aber auch mit Broschüren, Statistiken, Radiobeiträgen, Bühneninszenierungen, Filmen und Ausstellungen eine gesundheitliche Aufklärung und Belehrung der Bevölkerung, in diesem Fall der Mütter, initiierten und koordinierten. Ziel war die »Hebung der Volksgesundheit« durch Prävention von Erkrankungen wie Tuberkulose, Rachitis und Zahnausfall, die durch den Ersten Weltkrieg, Hunger und Mangelversorgung stark verbreitet waren. Sozialhygiene, Gesundheitsfürsorge und -prävention wurden zu einem der Kerntätigkeitsfelder des in rasantem Tempo ausgebauten öffentlichen Gesundheitswesens. Ärzte, wie auch andere Vertreter medizinischer Berufe beteiligten sich an der gesundheitlichen Aufklärung der Bevölkerung.

Wie Jill Gossmann in ihrer an der Martin-Luther-Universität Halle eingereichten Dissertation herausarbeitet, hatten Ärzte ein berufspolitisches Interesse an der »hygienischen Volksbelehrung«. Avancierte diese doch zur zentralen staatlich geförderten präventiven Maßnahme, die professionelles Prestige verhieß. Gerade niedergelassenen Ärzten boten die Gesundheitskampagnen dabei eine Möglichkeit, ihren Anspruch auf exklusive Behandlung der Bevölkerung zu festigen sowie sich gegenüber »Kurpfuschern« abzugrenzen.

Die Gesundheitskampagnen erfüllten nicht nur die Funktion von Krankheitsprävention, sondern boten – so die These der Arbeit – darüber hinaus eine Plattform für Interessen- und Deutungskämpfe. In den Gesundheitskampagnen thematisiert wurden z. B. konkurrierende Deutungsmuster von Krankheitsursachen und damit eng verknüpft Wertvorstellungen, Gesellschaftsbilder und politische Überzeugungen. Zur Debatte stand beispielsweise, inwiefern soziale Bedingungen und Umwelt, wie Armut, Industriearbeit und Mangelernährung Erkrankungen beförderten und insofern Staat und Gesellschaft in der Verantwortung waren, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, um eine »Hebung der Gesundheit« zu erreichen.

Ein anderer Ansatzpunkt war die Steuerung individuellen Verhaltens, um eine Ausbreitung von Bakterien zu verhindern. Zunehmend bestimmten in den 1920er Jahren eugenische Ideen und damit die Frage der Optimierung der Bevölkerung die Debatten. Bestimmte Erkrankungen, aber auch Intelligenz und deviantes Verhalten galten als erblich und waren - so die verbreitete Annahme - über eine entsprechende Planung und Steuerung der Fortpflanzung zu verhindern oder zu fördern. Je nach politischer Überzeugung setzten die Ärzte in diesen Fragen unterschiedliche Schwerpunkte und richteten die Gesundheitskampagnen entsprechend aus.

Jill Gossmann schließt mit ihrer These der durch Interessens- und Deutungskämpfe aufgeladenen Gesundheitskampagnen an die Arbeit von Justyna Turkowska an, die für die preußische Provinz Posen um die Jahrhundertwende eine Verknüpfung von Sozialhygiene mit deutschen und polnischen nationalen Diskursen herausarbeitet1. Das Ziel, die Gesundheit des Volkes »zu heben« war insofern bereits um die Jahrhundertwende formuliert und mit professions- wie gesellschaftspolitischen Fragen verbunden. In der Weimarer Republik neu war jedoch die innerhalb der Fachöffentlichkeit der Ärzteschaft ausgetragene Debatte über die richtige Strategie der Aufklärung und die der Implementierung von Gesundheitswissen in der Bevölkerung. Ärzte setzten sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zunehmend mit ihrer Rolle als »Erzieher der Massen« sowie mit pädagogischen Leitbildern auseinander. Sie bestimmten dabei ihr Verhältnis zu den »Massen«, zur Weimarer Demokratie und verhandelten ihre gesellschaftliche wie politische Identität und Position.

»Masse« verwendet Gossmann als einen Quellenbegriff, den insbesondere das Bürgertum zur Abgrenzung von Unterschichten und als Gegenbegriff zu »Elite« und »Individuum« in Stellung gebracht habe. Ärzte sahen sich während der Weimarer Republik mit Angehörigen der Unterschichten, also der »Masse«, durch die Ausweitung der Zahl der Kassenpatienten konfrontiert, die zunehmend selbstbewusst gesundheitliche Leistungen einforderten und das Distinktionsmerkmal der Ärzte, ihre medizinische Expertise, immer wieder in Frage stellten. Ärzte fühlten sich dabei – so Gossmann – entweder durch die Ausweitung der politischen und gesellschaftlichen Teilhabe bedroht oder setzten sich für unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen ein.

Die Mehrheit der Ärzte ordnet Gossmann den Milieus der »traditionalistischen und revolutionären nationalen Rechten« zu und nur einen kleinen Teil dem sozialdemokratischen oder sozialistischen Milieu. Sozialdemokratisch und sozialistisch orientierte Ärzte gehörten meist einer Minderheitengruppe an. Sie hatten einen jüdischen familiären Hintergrund oder waren Frauen. Andere hatten sich für das im Zuge des Ausbaus des öffentlichen Gesundheitswesens neu entstandene Berufsfeld des Stadt- oder Kommunalarztes entschieden. Die Stadt- und Kommunalärzte partizipierten an der interdisziplinär ausgerichteten Sozialhygiene. Dies habe – so Gossmann – eine liberal demokratische bis hin zu einer sozialistischen politischen Einstellung befördert. Für die zu einer der Randgruppen gehörenden Ärzte verhieß der demokratische Gleichheitsgedanke eine Verbesserung ihrer Position und motivierte sie, sich für die Demokratie einzusetzen. Für männliche Ärzte aus dem christlichen Milieu hingegen stellte der Gedanke der demokratischen Gleichheit eine Bedrohung ihrer privilegierten Position dar. Sie idealisierten daher die gesellschaftlichen Strukturen des Kaiserreichs.

Jill Gossmann legt mit ihrer Arbeit erstmals eine umfassende Sozialstudie zu Ärzten zur Zeit der Weimarer Republik vor. In weiten Teilen bestätigen ihre Ergebnisse frühere Forschungen, geben jedoch einen neuen detaillierten und systematischen Einblick in Wissenskulturen und politische Milieus der Ärzte. Ihre Arbeit bietet z. B. eine Annäherung an die Frage, warum überproportional viele Ärzte bereits vor 1933 der NSDAP beitraten. Zugleich weist Gossmann auf eine Pluralisierung der Akteure und damit in gewisser Weise auf eine Demokratisierung des gesundheitlichen Diskurses hin. So gewannen Gesundheitsvereine, wie der Arbeitergesundheitsverein, an Bedeutung und Einfluss. Offen bleibt die Frage (deren Beantwortung den Rahmen der Arbeit gesprengt hätte), wie »die Massen« die vielfach disziplinierenden gesundheitlichen Aufklärungsbemühungen der Ärzte aufnahmen, verhandelten und umsetzten2.

1 Vgl. Justyna Turkowska, Der kranke Rand des Reiches. Sozialhygiene und nationale Räume in der Provinz Posen um 1900, Marburg 2020 (Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 48).
2 Vgl. Ute Frevert, »Fürsorgliche Belagerung«. Hygienebewegung und Arbeiterfrauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 420–446.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Wiebke Lisner, Rezension von/compte rendu de: Jill Gossmann, Mediziner und die Erziehung der »Massen«. Gesundheitspädagogische Diskurse in der Weimarer Republik, Marburg (Tectum Verlag) 2022, 527 S. (Geschichtswissenschaft, 49), ISBN 978-3-8288-4541-1, EUR 104,00., in: Francia-Recensio 2022/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90614