Als es ab ca. 2012 um die Vorbereitung der Jubiläen im Umfeld der »100 Jahre Erster Weltkrieg« ging, stellte sich bald ein ganz wesentlicher bzw. charakteristischer Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich heraus. In Deutschland wurde von Regierungsseite aus fast systematisch versucht, größere Erinnerungsaktivitäten zu vermeiden. Die deutschen Institutionen im Umkreis des Auswärtigen Amtes mussten dann bald zurückrudern, so stark war die von niemandem erwartete Bewegung von unten, nämlich die überall »vor Ort« erwachsenden Initiativen des Weltkriegsgedenkens. In Frankreich hingegen wurden diese in einer großangelegten gouvernementalen Aktion von vornherein systematisch gefördert bzw. sogar durchgehend »von oben« implementiert.

Das hier besprochene Buch zeigt detailliert, was sich in Frankreich während des gesamten Centenaire an Gedenkaktivitäten aller Art abspielte. Es ist deshalb, das sei gleich gesagt, für die Zukunft ein unverzichtbares Referenzwerk für jeden, der sich mit der Geschichte der commémoration sowie der Entwicklung der Präsenz des Ersten Weltkriegs in Frankreich beschäftigt.

Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis erweist, wie weitgespannt und gleichzeitig zielgerichtet das gesamte Werk ist. So gibt es ausführliche Berichte etwa über die zwischen 2012 und 2019 abgehaltenen Seminare sowie die Master- und Doktorarbeiten (Simon Catros) und die Vielzahl der wissenschaftlichen Tagungen (Elisa Marcobelli). Franziska Heimburger kommentiert ausführlich und mit vielen bunten Schaubildern die »publications scientifiques du Centenaire«, während sich Nicolas Patin der allgemeinen Erster Weltkrieg-Literatur widmet. Bérénice Zunino untersucht die Ausstellungen aller Art, die dem Großereignis Grande Guerre in ganz Frankreich gewidmet worden sind. Und sogar die »conférences grand public« als Mittel der Verbreitung der Kenntnisse über den Krieg werden ausführlich aufgerollt (Sylvain Delpeut). Benjamin Gilles wiederum zeigt die vielfältigen Aktivitäten so ziemlich aller französischen Archive und öffentlichen Bibliotheken, während Nicolas Charles der Frage nachgeht, wie es um die schulische Vermittlung der wissenschaftlichen Darstellungen zum Centenaire bestellt war. Die Medien aller Art und deren Zugriff auf die Ereignisse, die Art und Weise der »vulgarisation« der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Debatten erörtern abschließend Lise Galand und Frédéric Clavert.

Die Herausgeber betonen, dass dieses Werk gleichwohl nur eine Art vorläufige Bilanz des wissenschaftlichen Ertrags der Veranstaltungen des letzten Jahrzehnts sein will, aber der Rezensent hält das für einen Bescheidenheits-Topos, denn viel mehr wird man auch auf Dauer nicht an Signifikantem herausfinden können.

Die Beiträge werfen also ein helles Licht auf alle vorstellbaren Erinnerungs- und Gedenkaktivitäten zu den Jahren 1914–1918. Zentral wird der »bilan général« bleiben, den Arndt Weinrich und Nicolas Patin den Einzeluntersuchungen vorangestellt haben. Dieser ist ca. 100 Seiten lang und hat damit bereits monografischen Charakter. Die beiden Autoren haben offensichtlich nichts unberücksichtigt gelassen, was in irgendeiner Weise für die Entstehung und Durchführung der Organisation des Centenaire »von oben« unternommen worden ist. Alle Sitzungsprotokolle etwa der vom Staatspräsidenten zu diesem Zweck eingesetzten Mission du Centenaire de la Première Guerre mondiale sowie eine Reihe von Interviews mit den gleichsam an vorderster Front agierenden Regierungsmitgliedern und den Historikern und Historikerinnen der Mission sind hier ausgewertet und in eine kohärente Erzählung eingebunden. So lässt sich leicht nachvollziehen, wie es überhaupt zum Centenaire kommen konnte, und wie dieser trotz aller institutionellen Reibereien doch schließlich zu einem großen und bleibenden Erfolg wurde.

Ausgangspunkt aller Aktivitäten war der sog. »Rapport Zimet«, ein Bericht, den Joseph Zimet, Historiker und hoher Beamter im diplomatischen Dienst, im September 2011 dem Präsidenten der Republik unter dem Titel »Commémorer la Grande Guerre (2014–2020): propositions pour un centenaire international« vorlegte. Neu daran war von vornherein die Betonung des internationalen Charakters des Projekts. Dazu ist es dann aber nicht gekommen. Denn im Fokus standen in den folgenden Jahren und bei allen konkreten Realisierungen nur die französischen Orte, Gruppen und Personen. Allerdings war es sicherlich nicht unerheblich, dass eine Reihe internationaler Weltkrieg I-Historiker als Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats der Mission du Centenaire fungierten. Diesem zentralen und im Übrigen höchst effizienten Organismus standen administrativ Joseph Zimet und wissenschaftlich Antoine Prost vor. Letzter hat in der politischen Klasse ebenso wie unter Historikern einen exzellenten Ruf. Sein Wirken für die Mission wird S. 55–57 beschrieben.

Recht ausführlich geht die Studie auf die Art und Weise ein, wie es gelingen konnte, die beiden im Vorfeld von 2014 so antagonistischen Tendenzen in der aktuellen französischen Weltkrieg I-Forschung, nämlich den CRID (Collectif de Recherche International et de Débat sur la guerre de 1914–1918) und den Centre international de recherche am Weltkrieg I-Museum in Péronne zusammenzubringen, und zwar so, dass alte Gegner oder sogar Feinde zu gemeinsamen Berichten und Projekten gezwungen wurden. Zur Erläuterung: der CRID ist eine Gruppe um André Loez, Général Bach, Frédéric Rousseau und Rémy Cazals, die davon ausgeht, dass die französischen Soldaten nur gezwungenermaßen am Krieg mitmachten, während »Péronne« eine Gruppe von internationalen Historikern um Jean-Jacques Becker und Stéphane Audoin-Rouzeau ist, die glaubt, dass bei allem Zwang und Leid auch patriotische Motive für das Durchhalten der Frontsoldaten entscheidend waren (der Rezensent ist übrigens ein Gründungsmitglied von »Péronne« ...).

Im Nachhinein kann man nur bestätigen, was Patin und Weinrich herausstellen: Dem Geschick von Joseph Zimet und der überparteilichen Sachautorität von Antoine Prost ist es zu verdanken, dass in den ganzen langen Jahren der Diskussion im Rahmen der Mission niemals die Fetzen flogen, sondern dass man im Gegenteil von vielen Ideologemen und polemischen Übertreibungen auf beiden Seiten abzurücken verstand. In dieser Hinsicht war die Diskussion über die »Mémoire des Fusillés« zentral, also über das Gedenken an die vorgeblich wegen Gehorsamsverweigerung oder Fahnenflucht standrechtlich erschossenen Soldaten. Zurecht gehen Patin und Weinrich ausführlich auf dieses Problemfeld ein, das politisch, wissenschaftlich und wissenschaftspolitisch in Frankreich lange Jahre von großer Bedeutung war. Der »Rapport Prost« über die Frage »Quelle mémoire pour les fusillés de 1914–1918? Un point de vue historien« ist ein Meisterwerk des ausgleichenden Denkens, das gleichwohl nicht auf Kosten wissenschaftlicher Präzision ging.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie die gemeinsame Arbeit in einer Vielzahl von Kommissionen dämpfend auf die Erregungs-Unkultur wirkte, waren die Komitees, in denen die »labellisation« zugesprochen oder aber verweigert wurde, von der die Aufnahme in den nationalen Katalog der Veranstaltungen und die Erlaubnis zur Nutzung des offiziellen Logos »Centenaire 14–18« abhing. Für viele Hunderte individuelle und lokale Projekte, die um das Label der Mission du Centenaire nachsuchten (durch welches man auch finanzielle Förderung erhalten konnte), waren konkrete Entscheidungen zu treffen, was im Großen und Ganzen aber anstandslos funktionierte. Patin und Weinrich gehen mit gutem Grunde gerade auch auf diesen Aspekt der Tätigkeit der Mission ausführlich ein.

So haben wir mit diesem Buch ein Werk vor uns, das sowohl wissenschaftspolitisch als auch historiografiegeschichtlich von großem Interesse ist und sicherlich als Quelle für das Großereignis »100 Jahre Erster Weltkrieg« in Frankreich bleibenden Wert behalten wird.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Gerd Krumeich, Rezension von/compte rendu de: Arndt Weinrich, Nicolas Patin (dir.), Quel bilan scientifique pour le centenaire de 1914–1918? Préface de Stéphane Audoin-Rouzeau, Paris (Sorbonne Université Presses) 2022, 502 p., ill. en n/b et en coul., cartes, ISBN 979-10-231-0706-7, EUR 35,00., in: Francia-Recensio 2022/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90624