Die landständischen Verfassungen in den Territorien des Alten Reichs gehören seit Langem zu den zentralen Themen der Landesgeschichte. Die Frage nach den ganz praktischen Aspekten der Organisation der ständischen Versammlungen hingegen steht noch nicht so lange im Fokus der Forschung – und die nach den Wechselwirkungen mit dem jeweiligen lokalen Umfeld, in dem sie stattfanden, auch nicht. Beiden Themen widmet sich die Dissertation des Autors, die 2019 an der TU Dresden verteidigt wurde und im Rahmen eines Graduiertenkollegs zur Geschichte der sächsischen Landtage entstanden ist. Ihr Interesse richtet sich auf Torgau als erstem dauerhaften Tagungsort der kursächsischen Ständeversammlungen nach dem Schmalkaldischen Krieg und der Wittenberger Kapitulation, die u. a. den Übergang der sächsischen Kurwürde von den Ernestinern auf die Albertiner bedeutete. Unter den ernestinischen Kurfürsten war Torgau Fürstenresidenz gewesen, unter den neuen politischen Vorzeichen drohte der Stadt das Versinken in der Bedeutungslosigkeit. Dass dies nicht geschah, lag insbesondere daran, dass in den ersten 78 Jahren der albertinischen Herrschaft die sächsischen Landtage ausschließlich dort stattfanden. Was dies organisatorisch bedeutete, in welchen zeremoniellen Formen sich die Tagungen vollzogen, welche Folgen sie für die Versorgungssituation in der Stadt hatten und wie deren Raum und Bevölkerung einbezogen wurden – das sind Fragen, derer sich die Studie annimmt. Methodisch lässt sie sich von kulturgeschichtlichen Ansätzen leiten, wie sie in der aktuellen historischen Kongressforschung üblich sind, die sich auch und gerade mit den frühneuzeitlichen Reichsversammlungen beschäftigt hat, weshalb die Ergebnisse nicht nur für die sächsische Landesgeschichte interessant sein dürften. Als Quelle dient vor allem die reiche Überlieferung im Hauptstaatsarchiv Dresden, wo sich weniger der Bestand zu den Landtagen selbst, sondern vor allem die Materialien zum Geheimen Rat und im Finanzarchiv als aussagekräftig erwiesen haben. Einige dieser Quellen sowie statistisches Material finden sich im Anhang.

Auf eine umfangreiche Einleitung, die u. a. ausführlich die Forschungsfrage nach den Tagungsorten von Ständeversammlungen diskutiert und eine Systematisierung der verschiedenen Kriterien vorschlägt, folgen drei inhaltliche Kapitel, die vom Umfang her sehr unterschiedlich ausfallen. Zunächst verfolgt der Autor die historischen Entwicklungen, die zur Wahl von Torgau als erstem festen Tagungsort der kursächsischen Landtage führten. Den Zeitgenossen erschien diese Wahl offenbar selbstverständlich – jedenfalls haben sich keine Dokumente erhalten, die ihre Beweggründe erläuterten. Bergmann-Ahlswede führt dennoch einige ins Feld, etwa die verkehrsgünstige Lage der Stadt, die aus der Residenzstadtzeit herrührende Infrastruktur, das kurfürstliche Schloss als Tagungsort oder eine lokale Wirtschaft, die die Versorgung der Landtagsteilnehmer schultern konnte. Im folgenden und bei Weitem umfangreichsten Kapitel des Buches stehen die konkreten Abläufe der Landtagsorganisation im Mittelpunkt. Wer nahm teil, wann und wie oft traf man sich, wer bestimmte die inhaltliche Ausrichtung der Zusammenkünfte, wie reiste man an (und wieder ab), wie genau verliefen die Versammlungen, in welchen Räumen kam man zusammen, was kostete das Ganze – alle diese Aspekte werden im Detail ausgeleuchtet. Besonders plastisch wird das Geschehen dabei in den Unterkapiteln zur Versorgung der Landtagsteilnehmer und zur Geselligkeit, die die Tagungen begleitete. Bis 1622 hatten die Stände und ihre Begleiter das Recht, während der Dauer des Landtags vom Hof verpflegt zu werden (danach wurde diese »Ausspeisung« in die Auszahlung eines bestimmten Geldbetrags, den »Diäten«, umgewandelt). Vor welchen Herausforderungen der Oberhofmarschall und die ihm unterstehenden Bediensteten bei der Beschaffung von Wein, Bier, Fleisch, Gemüse oder »Gewürtz« standen und auf welchen Wegen sie die unzähligen Waren besorgten, wird ebenso geschildert wie, in welcher Ordnung man zu Tisch saß und welche Rolle die Speisung als »gemeinschaftsstiftende Ritualhandlung« (S. 336) spielte. Interessant sind ebenso die Befunde zum Festgeschehen auf den Torgauer Landtagen, das offenbar – und im Gegensatz zu anderen frühneuzeitlichen Versammlungen – eher nüchtern ausfiel, was Bergmann-Ahlswede damit erklärt, dass die Landtage in erster Linie der Steuerbewilligung in einem Kontext hoher Staatsverschuldung dienten, weshalb es sich von selbst verbot, das höfische Treiben allzu ausschweifend erscheinen zu lassen (S. 391). Ein kurzer Blick auf die zeitgenössische Rezeption der Torgauer Landtage schließt die Studie ab.

In seiner Zusammenfassung resümiert der Autor noch einmal die zentralen Ergebnisse: Die Nutzung von Torgau als Tagungsort der Landtage zeigt zunächst, dass eine fürstliche Residenz – im albertinischen Fall Dresden – nicht zwangsläufig die Erwartung generierte, dass dort auch die Landtage zusammenkamen. Wie auf der Reichsebene konnten also auch in den Territorien Hauptstadtfunktionen noch im 17. Jahrhundert auf mehrere Orte verteilt sein. Ein fester Tagungsort hatte freilich zur Folge, dass sich Abläufe und zeremonielle Formen verstetigten. Er trug also zur überzeitlichen Verfestigung politischer Rituale bei. Gleichzeitig erlaubten es die regelmäßigen Landesversammlungen Torgau, den verlorenen Charakter als Residenzstadt zu kompensieren und eine gleichwertige politische und gesellschaftliche Stellung beizubehalten. Auch ökonomisch profitierte die Stadt erheblich von den Landtagen. Zudem dienten die Tagungen – vor allem bei den wichtigen »Ausspeisungen« der Teilnehmer – als zentrale Bühne für die rituelle Repräsentation und Reproduktion der ständischen Ordnung, die bis hinab zum Dienstpersonal alle Glieder der Gesellschaft einbezog und deshalb eine wichtige soziale Ordnungsleistung erbrachte. Allerdings war die Organisation der ständischen Versammlungen für die Stadt immer auch mit erheblichen Belastungen verbunden, insbesondere durch die massiven Sicherheitsvorkehrungen, die das städtische Leben oft tagelang nahezu vollständig zum Erliegen brachten. Insofern zeigt die Geschichte der Torgauer Landtage auch die Ambivalenzen auf, mit denen solche Großereignissen für die sie ausrichtenden Orte verbunden waren.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Falk Bretschneider, Rezension von/compte rendu de: Jan Bergmann-Ahlswede, Landtag in der Stadt: Torgau als Schauplatz der kursächsischen Ständeversammlungen (1550–1628). Eine kulturgeschichtliche Studie zur Etablierung eines ersten dauerhaften Tagungsortes in Kursachsen am Beginn der Frühen Neuzeit, Ostfildern (Jan Thorbecke Verlag) 2021, 585 S. (Studien und Schriften zur Geschichte der sächsischen Landtage, 9), ISBN 978-3-7995-8468-5, EUR 65,00., in: Francia-Recensio 2022/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.91968