Mit eher skeptischem Blick dürfte man zunächst auf diesen Band über frühneuzeitliche Privatheit schauen, handelt es sich doch um einen anachronistischen Begriff, fest eingebunden in den Gegensatz zum Begriff der Öffentlichkeit. Das Private als »Recht, allein gelassen zu werden« oder als intimer Rückzugsraum etwa des Hauses, der Familie, der Emotionen lässt sich wohl kaum sinnvoll für die Frühe Neuzeit analysieren. Ertragreicher erscheinen eher andere Konzepte, etwa Geheimnis oder Vertrauen.

Mit genau einem solchen Plädoyer von Marian Rothstein schließt dieser Band, und er hätte genauso gut damit beginnen können, denn die Probleme des Konzepts sind der Herausgeberin und den Herausgebern wie auch den Autorinnen und Autoren bewusst. Sie nehmen diese Probleme aber als Ausgangspunkt für die beherzte Neuaufnahme einer Diskussion, die historiografisch ausgelaugt zu sein scheint, nach den kanonischen Arbeiten etwa von Norbert Elias, Philippe Ariès und Georges Duby, Jürgen Habermas oder Michel Foucault. Doch anstatt dem naheliegenden Impuls nachzugeben, dass es das Private in der Vormoderne nicht gegeben habe, wird die Frage danach noch einmal neu und anders gestellt, sie wird analytisch geöffnet.

Das Kopenhagener Centre for Privacy Studies hat dafür einen pragmatischen Ansatz entwickelt, der in der kurzen Einführung von Lars Cyril Nørgaard und in einem exemplarischen Beitrag von Mette Birkedal Bruun expliziert wird. Es gehe nicht um feststehende Definitionen oder gar konzeptionelle Modelle von Privatheit im Modernisierungsprozess, vielmehr sei die Vielzahl unterschiedlicher Privatheiten in ihren jeweiligen Kontexten quellennah zu analysieren. Dazu wird ein doppelter Zugriff vorgeschlagen: Zum einen ein begriffsgeschichtlicher, der sich mit dem Wortfeld beschäftigt – Privatheit, Geheimnis, Intimität etc. und ihre Gegensatzbegriffe, etwa Öffentlichkeit, Allgemeinheit, Staat, Amt. Dieser Zugang soll ergänzt und korrigiert werden durch einen heuristischen, der nach den Phänomenen fragt, auch wenn sie sich nicht zwangsläufig im Begriff der Privatheit niederschlagen. Dafür sollen konzentrisch angeordnete räumliche Zonen und v. a. die Schwellen und Übergänge zwischen ihnen untersucht werden: Seele und Selbst, Körper, Kammer, Haus und Haushalt, Gemeinschaft, Staat und Gesellschaft.

Auch wenn, und vielleicht gerade weil, nur einige der Beiträge sich explizit auf diesen Ansatz beziehen, erweist sich der Band als außerordentlich ertragreich, indem eine Vielzahl von Zugängen zu dem Untersuchungsfeld versammelt sind. Sehr unterschiedliche Phänomene und Quellen werden hier von vielen Seiten aus beleuchtet und analytisch aufgeschlossen. Es scheint die Konzeption der Herausgeberin und der Herausgeber gewesen zu sein, in einem intellektuellen Experiment mit betont offenem Ausgang sehr verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler interdisziplinär zu frühneuzeitlichen Privatheiten zu befragen, in einem denkbar breiten geografischen Ausgriff, von China bis Nordamerika, von Skandinavien bis Süditalien. Der Nachteil dieses Vorgehens, möglicherweise auch des pragmatischen Ansatzes, ist einmal, dass sich die Beiträge schwer systematisch ordnen lassen – die vorgenommene Gliederung erscheint mitunter beliebig. Andererseits wirkt der Titel irreführend, zumindest missverständlich: »Early Modern Privacy« lässt erwarten, dass ein Schlüsselbegriff frühneuzeitlichen Lebens thematisiert wird. Genau das aber wird explizit und mit guten Gründen in Frage gestellt – der Begriff diversifiziert sich, löst sich auf und taugt nicht mehr zur Kennzeichnung großer modernisierungstheoretischer Linien. Dem Band geht es um Differenzierungen; die Frage nach frühneuzeitlicher Privatheit soll dazu dienen, vielfältige historische Phänomene zu entschlüsseln und Fragen zu stellen – was aber sagt das über Privatheit jenseits dessen aus, dass es komplex ist und man differenzieren muss?

Einige Punkte lassen sich da ausmachen, und sie sind durchaus gewichtig: Da ist zunächst der immer wieder herausgestellte begriffsgeschichtliche Befund, dass Privatheit in antiker Tradition nur der Negativbegriff von Öffentlichkeit war, die allerdings mit Regierung, Herrschaft, Allgemeinwohl, Amt und Politik assoziiert war. »Privat« war dann alles andere, und damit ein Großteil dessen, was nach heutigem Begriffsgebrauch als öffentlich gilt, wie etwa auch Mia Korpiola anhand der Schwedischen Rechtsgeschichte deutlich macht.

Andererseits wird der scheinbar offensichtliche, überzeitliche Gegensatz von öffentlich/privat immer wieder systematisch aufgebrochen. In einer dichten Diskussion der Leichenpredigt eines dänischen Kanzlers stellt so Lars Cyril Nørgaard heraus, wie der als überaus intim, privat dargestellte Moment des Sterbens zugleich öffentlich gemacht wird. Ivana Bičak zeigt in ihrem Beitrag zu Satiren über die frühe englische Naturforschung, wie das scheinbare Gegensatzpaar in den öffentlichen Schilderungen privater Experimentalanordnungen ineinander verwoben war. Und Hang Lin expliziert die Wechselwirkungen und Veränderungen von privat und öffentlich am Beispiel des Buchdrucks in der späten Ming-Dynastie.

V. a. kommen immer neue Begriffe und Phänomene und deren Beziehungen zum vermeintlichen Gegensatzpaar privat/öffentlich in den Blick. Hélène Merlin-Kajman sieht in der französischen Literatur des 16. Jahrhunderts den Begriff der particularité (Besonderheit) und Familiarität nicht als Gegensatz, sondern als anderen Teil von Öffentlichkeit. Natasha Klein Käfer stellt das Vertrauen zwischen dörflichen Heilerinnen und ihre Patientinnen in den Mittelpunkt ihrer überaus lesenswerten Überlegungen – eine Beziehung, die sie als Machtbeziehung deutet. Anne Régent-Susini findet in ihrer Lektüre französischer Leichenpredigten mehrere Ebenen von Privatheit in einem Zwischenraum zwischen Öffentlichkeit und Geheimnis. Und Matthieu Laflamme betrachtet das Wissen um voreheliche sexuelle Intimität in Toulouse in der Verwandtschaft, Nachbarschaft, vor Gericht und in der Öffentlichkeit des städtischen Straßengeredes.

Der Band plädiert damit systematisch für einen Blick auf Privatheit nicht als von der Öffentlichkeit getrennte Sphäre, sondern als ein vielschichtiges Phänomen gradueller Abstufungen, die situativ hergestellt wurden. Michaël Green etwa zeigt anhand dreier Amsterdamer jüdischer Selbstzeugnisse auf, wie sich die Sicht auf Privatheit je danach veränderte, ob die Situation durch Haushalt und Familie, Freundschaft oder den Staat bestimmt wurde. In einer intensiven Lektüre eines Antwerpener Andachtsbuchs arbeitet Walter S. Melion verschiedene Grade von Privatheit heraus.

Bei all dem wird deutlich, dass sich Privatheit gerade nicht im Alleinsein erschließt, sondern durch Beziehungen geformt wird und dadurch seinen Sinn erhält. Besonders betont das etwa Heide Wunder in ihrem genderhistorischen Beitrag. Haus, Haushalt, Heirat, Familie, Liebe, Freundschaft oder Nachbarschaft analysiert sie als »private Herrschaft«. Selbst das Geheimnis, so Thomas M. Safley in seinen Ausführungen über Geheimhaltungspraktiken während des Bankrotts einer Augsburger Händlerfamilie, kann nur als Akt sozialer Kommunikation verstanden werden. In ständiger Aushandlung zwischen den Beteiligten (Dienern und Ehefrauen, Gläubigern und Zwischenhändlern, Nachbarschaft und Korporation) habe »Geheimnis« für jede/n etwas anderen bedeuten können und sei flexibel genutzt worden. Auch dieser Punkt, dass Privatheit ganz wesentlich in sozialen Beziehungen strukturiert ist, kann gar nicht überbetont werden.

Diese Beziehungen (auch Liebe und Ehe, Freundschaft und Nachbarschaft) waren asymmetrisch gestaltet. Etliche Beiträge, insbesondere aber die von Heide Wunder, Thomas M. Safley oder Natasha Klein Käfer, machen deutlich, dass Privatheit somit in sozialen Machtgefällen organisiert war, dass mit Privatheit auch Herrschaft ausgehandelt wurde. Überaus erhellend untersucht so auch Valeria Viola die räumlichen Wohnarrangements eines süditalienischen Adligen im städtischen Kontext und argumentiert, dass Zugänglichkeiten variabel dazu organisiert worden seien, um soziale und politische Macht zu demonstrieren. Diese soziale Tiefenschärfe erscheint als ganz grundlegend, um die Konzepte und Praktiken frühneuzeitlicher Privatheit zu verstehen.

Damit ist auch ein weiterer zentraler Punkt angeschnitten, den etliche Beiträge verdeutlichen: Privatheit ist durch materielle Kulturen in räumlichen Arrangements geprägt. Besonders augenfällig wird das im Beitrag von Maarten Delbeke über Berninis Cornaro-Kapelle in Rom, in der architektonisch und künstlerisch die graduelle Abstufung von Privatheit und Öffentlichkeit verhandelt worden sei.

Die meisten Beiträge zeichnen sich wohltuend durch einen selten gewordenen Stil der Reflexivität aus, durch ein tastendes Suchen, Fragen und Infragestellen. Zweifeln und Unsicherheiten wird Raum gegeben, gerade dadurch ist das Niveau methodischer Überlegungen anregend. So diskutiert Lee Palmer Wandel anhand eines spätmittelalterlichen Stundenbuchs (wunderbar mit Farbabbildungen versehen) den Moment der Kommunion, der Aufnahme der Hostie in den Mund – ein zugleich sehr persönlicher wie öffentlicher Moment, für den sich weniger der Begriff »privat« als »intim« eigne. Willem Frijhoff untersucht das Netzwerk einer französisch-niederländischen Händlerfamilie um 1600 zwischen lokalen und globalen Kontexten und fragt: »Do we, as historians, need the concept of privacy for a global family search?«

Gerade diese in vielen Beiträgen zu findende Offenheit, den zentralen Begriff auch in Frage zu stellen, zeigt, dass sich die Frage nach Privatheit insbesondere auch für vormoderne Kontexte lohnt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Sebastian Kühn, Rezension von/compte rendu de: Michaël Green, Lars Cyril Nørgaard, Mette Birkedal Bruun (ed.), Early Modern Privacy. Sources and Approaches, Leiden (Brill Academic Publishers) 2021, XXII–442 p. (Intersections, 78), ISBN 978-90-04-15291-5, EUR 149,00., in: Francia-Recensio 2022/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.91984