Die zweibändige Quellenanthologie präsentiert die Reaktionen der deutschen Aufklärung auf Rousseaus Konzept der perfectibilité aus seinem »Zweiten Diskurs« von 1755. Wie die Einleitung erläutert, stellt dieses in doppelter Hinsicht eine Herausforderung dar: Zum einen handelt es sich um keinen notwendig ablaufenden Prozess, sondern um eine reine Disposition, die durch zufällige externe Faktoren angeregt werden kann, aber nicht muss. Zum anderen läuft die Entwicklung nicht auf eine Perfektion im normativen Sinn hin, sondern führt vom Ideal natürlicher Einfachheit weg. Die paradoxe »thèse rousseauiste« besteht also in einer »perfectibilité«, die nicht in der Lage ist, »de nous garantir l’issue d’un perfectionnement« (S. 9).

Das Editionsprojekt der interdisziplinären Forschungsgruppe geht auf Studien Bertrand Binoches zurück, wo das deutsche Vervollkommnungsverständnis als finalistisch – und damit anti-rousseauistisch – beschrieben wurde (S. 14). Diesen Befund gelte es auf eine breitere Grundlage zu stellen, wobei das Ziel zugleich ist, die Diversität der deutschen Debatte aufzuzeigen. Denn mit dem Thema, das schon vor 1755 kontrovers diskutiert wurde, befassten sich so unterschiedliche (Sub-)Disziplinen wie Philosophie, Theologie, Anthropologie, Pädagogik und Ästhetik. Rousseau – das wird eingeräumt – war also keineswegs die einzige Quelle für Inspiration und Irritation (S. 41). Vielmehr zeigt sich ein komplexes Geflecht von Positionen, die aus den unterschiedlichen Perspektiven und Traditionen mit ihren Gemeinsamkeiten und Spannungen folgten.

Um diese Komplexität zu ordnen, werden drei übergreifende Fragehorizonte benannt: 1. Wer perfektioniert sich: das Individuum, eine bestimmte Gruppe oder die gesamte Menschheit? 2. Was wird perfektioniert: die menschlichen Fähigkeiten im umfassenden Sinn, die Vernunft oder die Moral? 3. Wie vollzieht sich die Vervollkommnung: perfektioniert sich der Mensch selbst oder wird er perfektioniert? Mit Ersterem ist die in der Forschung kontrovers diskutierte Frage nach dem aufklärerischen Universalismus verbunden, wurden in diesem Zusammenhang doch auch die vorgeblichen Unterschiede einzelner Völker und »Rassen« diskutiert. Die Autorinnen und Autoren betonen jedoch, dass das Bild vom europäischen Universalismus als schlecht verdecktem Eurozentrismus für die Epoche der Aufklärung differenzierungsbedürftig sei (S. 26–35).

Nach der allgemeinen Einleitung, die diese Perspektiven und die Methode darlegt, wird das Quellenmaterial in 14 thematischen Abschnitten aufbereitet, denen jeweils eine eigene Einleitung vorangestellt ist. Die ersten Abschnitte bilden gewissermaßen die Präliminarien: In Binoches Einleitung zum avant-propos wird die These der Besonderheit von Rousseaus perfectibilité genauer expliziert und im dazugehörigen Quellenteil werden die entsprechenden Abschnitte des »Zweiten Diskurses« präsentiert. Kapitel 1 beleuchtet die deutsche Debatte vor 1755, indem es die Vervollkommnungskonzepte des Pietismus und Wolffianismus und deren Streitpunkte aufzeigt. In Kapitel 2 beginnt die Darstellung der deutschen Rousseaurezeption mit dem Austausch Mendelssohns und Lessings anlässlich der Übersetzung des »Zweiten Diskurses« und ihren unterschiedlichen Interpretationen seiner perfectibilité.

Die weiteren Kapitel fokussieren sich jeweils auf einen konkreten Problemzusammenhang. Hinsichtlich des Subjekts wird diskutiert, ob die Vervollkommnungsfähigkeit den entscheidenden Unterschied zwischen Mensch und Tier darstelle (Kap. 5), ob sie – wie erwähnt – eine universelle menschliche Eigenschaft sei oder individuelle oder gruppenspezifische Unterschiede hinsichtlich der Vervollkommnungsfähigkeit und des Grades der Vervollkommnung vorlägen (Kap. 7) und ob sich Letztere im Einzelnen oder als historischer Prozess in der Gattung vollziehe (Kap. 8). Zum Modus der Vervollkommnung wird debattiert, welches Verhältnis sie zur menschlichen Bestimmung habe (Kap. 3), ob diese von Gott, der Natur oder der Vernunft vorgegeben sei (Kap. 11), welche Rolle der Freiheit (Kap. 9) und Empfindungsfähigkeit (Kap. 10) in diesem Prozess zukomme und ob ihm Grenzen gesetzt seien (Kap. 12). Hinsichtlich der Rahmenbedingungen wird etwa thematisiert, ob das gesellschaftliche Zusammenleben die notwendige Vorbedingung der Perfektionierung sei (Kap. 6), ob sich diese erst im Jenseits vollenden könne (Kap. 4) und schließlich welche politischen Implikationen aus all dem folgten (Kap. 13).

Das Werk beeindruckt durch Umfang, Bandbreite und Sorgfalt: Viele der 137 Quellen(-auszüge) sind Erstübersetzungen, bereits übersetzte Texte wurden überarbeitet und begrifflich angepasst. Die Spannweite der Quellen reicht von großen Werken des philosophischen Kanons über Zeitschriftenartikel bis zu privaten Briefwechseln und konzeptionellen Vorarbeiten; die ihrer Autoren von Figuren des »intellektuellen Höhenkamms« bis zu weniger bekannten Namen. Nicht nur den Kapiteln, auch den einzelnen Quellen sind Einführungen vorangestellt, die über biografische und editorische Rahmendaten hinaus eine Kontextualisierung bieten und oft den Charakter kleiner eigenständiger Studien haben. Der umfangreiche Anhang enthält neben der Quellenübersicht, einer umfassenden Bibliografie und Registern auch eine Zeittafel, ein Glossar der wichtigsten Begriffe und ihrer Übersetzung sowie Kurzresümees der Kapitel. Er entspricht damit der Intention der Publikation, als Arbeitswerkzeug zu dienen, mit dem je eigene Schwerpunkte gezielt verfolgt und vertieft werden können.

Der Anspruch, Diversität und Komplexität darzustellen, wird zweifellos erfüllt. Teilweise entsteht jedoch der Eindruck einer Überfrachtung, steht doch jeder Quellenauszug in einem dreifachen Bezug: Zu dem Werk, dem er entstammt, zu dem Unterthema des jeweiligen Kapitels und zu Rousseaus perfectibilité als übergeordneter Perspektive. Dass die ausgewählten Auszüge nicht immer alle drei Aspekte umfänglich abbilden können, ist verständlich. Wenn aber die Quelleneinführungen den Gesamtzusammenhang erst herstellen müssen und gleichzeitig auf zahlreiche spezifische Aspekte des Einzeldiskurses und ‑werkes hinweisen, verschiebt sich bisweilen das konzeptionelle Gleichgewicht: Gerade bei nur kurzen Auszügen treten die Quellen hinter die Einordnungen zurück, im Extremfall wirkt ihre Lektüre nahezu redundant, zumindest scheinen sie nicht für sich selbst stehen zu können.

Damit stellt sich letztlich doch die Frage nach der Einheit in der Vielfalt: Spiegeln die Quellen tatsächlich einen Gegensatz der deutschen Aufklärung »contra Rousseau« oder lediglich eine komplexe Diskursvielfalt, in der Rousseau zwar immer wieder eine Rolle spielt, aber keineswegs eine konstitutive? Dient der Untertitel vielleicht vor allem dazu, Anschlussfähigkeit für ein französischsprachiges Publikum herzustellen? Und wenn dem so wäre, wäre das tragisch? Die vorgetragene Kritik ergibt sich vornehmlich aus dem Lesemodus der Rezensentin, der auf einen Gesamteindruck ausgerichtet ist. Denjenigen hingegen, die eine konkrete Erkenntnisabsicht verfolgen, werden die zahlreichen in den Quelleneinführungen aufgemachten Bezüge sicherlich nützlich sein. Und darum geht es dem Werk letztlich: zu weiterer Forschung anzuregen. Alleine einen so breiten Quellenkorpus in Übersetzung zugänglich gemacht zu haben, spricht hier für sich.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Sibylle Röth, Rezension von/compte rendu de: Emmanuel Hourcade, Charlotte Morel, Ayse Yuva (dir.), La perfectibilité de l’homme. Les Lumières allemandes contre Rousseau? 2 vol., Paris (Classiques Garnier) 2022, p. 1488 (Textes de philosophie, 19), ISBN 978-2-406-12253-1, EUR 121,00., in: Francia-Recensio 2022/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92002