Dies ist ein ungewöhnliches Werk der Geschichtswissenschaft, ein »Experiment«, wie die Verfasserin mit Recht sagt (S. 10, 12). Es hat weder einen klar umrissenen Gegenstand, ein definiertes Thema, eine ausformulierte Fragestellung, noch behandelt es ein abgegrenztes Quellenkorpus. Insofern trifft der Haupttitel »unendliche Geschichte« genauer zu als der Untertitel.
Nachdem die Autorin in einer Einleitung (S. 1–13) ihren Ansatz in der historiografischen Landschaft verortet hat, geht sie von zwei recht gewöhnlichen Dokumenten aus, die ein Notar 1764 in der südwestfranzösischen Provinzstadt Angoulême beurkundete. Das eine ist die Vollmacht, mit der die des Schreibens unkundige Witwe Marie Ferrand, geb. Aymard, einen jungen Mann beauftragte, nach dem Vermögen ihres verstorbenen Mannes in den karibischen Kolonien zu suchen (Kap. 1, S. 14–30); das andere ist der Ehevertrag zwischen Françoise Ferrand, einer Tochter dieser Witwe, und einem örtlichen Lehrer namens Etienne Allemand Lavigerie, eine Urkunde, die von 83 Zeugen unterschrieben wurde (Kap. 2, S. 31–57). Im Kern handelt das Buch von den Nachkommen der Witwe Ferrand bis zu den Enkeln ihrer Enkel, vom 18. bis ins beginnende 20. Jahrhundert. Das soziale Spektrum, in dem sich die Abkömmlinge finden, wird naturgemäß im Laufe der fünf Generationen breiter und reicht schließlich von einer armen Näherin bis zum Kardinal und Erzbischof von Algier; dieser steht, gewissermaßen als krönender, zumal extensiv dokumentierter Abschluss (Kap. 10, S. 265–299) der illiteraten Witwe gegenüber, über die das erste Kapitel nur spärliche Informationen liefern kann. Besondere Aufmerksamkeit gilt durchgehend den Frauen der Familie und den überseeisch-kolonialen Beziehungen der verschiedenen Personen: Auch die Provinzstadt im Hinterland der Atlantik-Häfen war vielfältig in die Kolonialwirtschaft verflochten; (ehemalige) Sklavenhalter lebten dort ebenso wie einstige Sklaven. Anhand der zahlreichen Zeugen in dem Ehevertrag von 1764 werden die Beziehungsnetze der beteiligten Familien untersucht. Dabei spricht die Autorin zwar von einer Visualisierung des sozialen Netzwerks (S. 38–41), bietet aber keine grafische Darstellung.
Über diesen Kern geht Rothschild freilich in mehrfacher Hinsicht hinaus und lässt die Grenzen des Buches unscharf werden, entsprechend dem Titel. So hat sie aus den katholischen Kirchenbüchern von Angoulême alle Taufen, Heiraten und Beerdigungen des Jahres 1764 erhoben (Kap. 3, S. 58–87). Einschließlich der Paten und Zeugen werden damit über 4 000 Personen erfasst. Daraus ergibt sich ein gewisser Einblick in die soziale Struktur der etwa 12 000 Einwohner zählenden Provinzstadt; doch ist zu fragen, ob das nicht besser aufgrund der Steuerlisten von 1763 und 1766 (S. 60) hätte geschehen können. Darüber hinaus wird nach Beziehungen zwischen den Personen in den beiden Ausgangsdokumenten und den 4 000 in den Kirchenbüchern von 1764 gefragt. Nicht zuletzt werden die kleinen Geschichten der wenigen erzählt, über die sich etwas mehr herausfinden ließ oder die in Verbindung zu Prominenten standen. So lesen wir, ausgehend von der Frau, bei der 1769/1770 Laurence Sterne’s Witwe und Tochter wohnten, die traurige Geschichte vom Diebstahl des geliebten Hündchens der Engländerinnen (S. 85–87).
Im Abschnitt über die Vorgeschichte der Revolution in Angoulême kommen die Witwe Ferrand und ihre Kinder nur punktuell vor (Kap. 4, S. 88–119). Weder an den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Schuldnern und Gläubigern, über die Turgot, damals Intendant in der Region, schrieb, noch an den Konflikten über das örtliche Priesterseminar waren Familienangehörige beteiligt. Ihr Bezug zu der Kriminalaffäre um eine angebliche Unterschlagung durch den Angestellten in einem Steuerbüro besteht darin, dass ein Enkel der Witwe Ferrand später Steuereinnehmer wurde. Auch das Kapitel über die Französische Revolution in Angoulême (Kap. 5, S. 120–157) hat kaum Bezug zu den Personen in den beiden Ausgangsdokumenten. Vielmehr stellt es allgemein den wenig spektakulären Verlauf der Umwälzung in der Stadt dar, die zum Sitz der Präfektur des Départements Charente wurde. Angereichert wird diese Chronik durch den Bericht von zwei Personen, die in Angoulême geboren, freilich schon lange in Paris ansässig waren und über die mehr Quellen zur Verfügung stehen als über all die anderen: einem Anwalt, der 1791 in Paris zum Mitglied der Nationalversammlung gewählt wurde, und der Kammerdienerin eines Adeligen, die sich 1794 selbst als Royalistin anzeigte und unter der Guillotine fiel. Diese Begebenheiten werden trocken referiert, ohne mikrohistorische Kontextualisierung und Interpretation (S. 143–157).
In den übrigen Kapiteln stehen die meist unauffälligen Lebensläufe der Nachkommen der Witwe Ferrand im Mittelpunkt. 1789‑1815 (Kap. 6, S. 158–194) waren sie eine »revolutionäre Familie« (S. 185), indem sie in der neuen Verwaltung und der Armee tätig wurden sowie gelegentlich ein Bröckchen von den biens nationaux erwarben. Eine »Revolution« trat vor allem in ihrem Heiratsverhalten ein (S. 190), indem die Enkel sich bei der Partnerwahl nicht mehr auf ihr Heimatstädtchen und die nahe Umgebung beschränkten; einer machte sogar von dem neuen Recht auf Scheidung Gebrauch. Die übrigen Kapitel widmen sich den Ferrand-Nachkommen im 19. Jahrhundert, großenteils kleinen Beamten, vor allem in der Steuer- und Militärverwaltung, Lehrerinnen und Lehrern. Einige, besonders die unverheirateten Lehrerinnen, blieben in Angoulême und bildeten einen Knotenpunkt im Netz der Verwandten. Die meisten zerstreuten sich in verschiedenen Teilen Frankreichs, einzelne suchten ihr Glück in den Kolonien. Wenige ragen hervor wie die teils mehr, teils weniger erfolgreichen Bankiers (S. 238–264), der Kardinal oder die Betreiberin einer Weinstube, die von der Pariser Bohème, auch einigen berühmten Künstlern und Literaten, geschätzt wurde (S. 207–208).
Diese »Prosopografie von unten«, wie Rothschild ihren Ansatz an einer Stelle (S. 2) im Anschluss an den programmatischen Aufsatz zur Mikrogeschichte von Carlo Ginzburg und Carlo Poni von 1979 nennt, stützt sich überwiegend auf die gewöhnlichen Massenquellen wie Kirchenbücher, Zivilstandsregister, Notariatsakten, Steuerlisten. Dabei nutzt sie die Datenmassen, die die Computer-Genealogie im Internet bereitstellt, und lässt sich bereitwillig von einem zum nächsten führen. Zu jeder erwähnten Person werden die Belege in den hundert Seiten der Anmerkungen minutiös nachgewiesen. Die Anhänge listen die Nachkommen der Witwe Ferrand (S. 308–313) und die 83 Zeuginnen und Zeugen des Ehevertrags von 1764 (S. 315–328) auf. Ein umfassender Index beschließt das Werk (S. 437–448). Literatur- und Quellenverzeichnisse fehlen, was das Auffinden der mehrfach in den Anmerkungen zitierten Werke mühsam macht.
Wenn der Gang des Buches in vieler Hinsicht locker und assoziativ wirkt, so sucht die Autorin, durch programmatische Ansagen, die sich von der Einleitung über die folgenden Kapitel bis zum Schuss hindurchziehen, Klammern zu bilden, die das ausgebreitete Material zusammenhalten. Unter den dabei angerufenen Autoritäten finden sich die großen Romanciers des 19. Jahrhunderts ebenso wie ein breites Spektrum von Historikern. Die Ereignisse im provinziellen Angoulême und die Lebensläufe der Ferrand-Nachkommen bestätigen Tocquevilles Aussagen über die langfristigen Ursachen und Folgen der Französischen Revolution (S. 116–118, 187f.). Wie Marc Bloch will Rothschild das Politische, Religiöse und Wirtschaftliche verflochten im Leben individueller Personen zeigen (S. 10). Im Unterschied zu einer traditionellen Wirtschaftsgeschichte, die die Ökonomie als einen abgrenzbaren Sektor begreift, zielt sie auf eine umfassende »Geschichte des wirtschaftlichen Lebens« (S. 186, 259–264, 365). Nicht um überpersönliche Kräfte und Kausalitäten geht es ihr, sondern sie will »positivistisch« (S. 8) darstellen, wie es eigentlich gewesen (»how it really was«, S. 7, 18f., vgl. 196, 222, im Anschluss an das bekannte Ranke-Zitat, sein Name fällt allerdings nicht). Trotzdem werden allgemeine Schlussfolgerungen formuliert. Dass die Ferrand-Nachkommen durchweg nicht in den Leitsektoren der Industriellen Revolution, sondern großenteils in Verwaltung, Schulen und Kirche arbeiteten und dass dies auf einen großen Teil der Bevölkerung Frankreichs zutraf (S. 220f.), wird traditionelle Wirtschaftshistoriker freilich nicht unbedingt überraschen.
Ob das Experiment, das die Autorin mit diesem Buch vorführt, spannend, das Ergebnis überzeugend ist, muss jede Leserin, jeder Leser am Ende selbst beurteilen. Eine unkonventionelle Lektüre bietet es allemal.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jürgen Schlumbohm, Rezension von/compte rendu de: Emma Rothschild, An Infinite History. The Story of a Family in France over Three Centuries, Princeton (Princeton University Press) 2022, 448 p., ISBN 978-069-120818-3, GBP 25,00., in: Francia-Recensio 2022/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92006