Lange bevor seit den 1980er Jahren der »iconic turn« auch die deutschsprachige Geschichtsschreibung zu beeinflussen begann, konnte sich die Kartografie als ein interdisziplinäres, überwiegend jedoch bis heute geowissenschaftlich erforschtes Fach etablieren. In Stadt- und Staatsarchiven wurden aus praktischen und konservatorischen Gründen oft bereits im 19. Jahrhundert umfangreiche Kartensammlungen als Selekte gebildet. Sie bildeten für die historische und geowissenschaftliche Forschung zwar eine reiche Quellengrundlage, doch ging der Entstehungskontext bisweilen verloren. Für die in hessischen Staatsarchiven liegenden Reichskammerprozesse wurden dank DFG-Förderung in den letzten Jahrzehnten die Kontexte von Plan, Karte und Aktenführung mühsam wiederhergestellt. Als Folge dessen verwundert es auch nicht, dass das Anschauungsmaterial im Kartenanhang (S. 145–190) der Studie von Evelien Timpener – die Ergebnisse sind eine Teilbilanz eines 2016/2018 an der Leibniz Universität Hannover angesiedelten DFG-Projektes – ausschließlich aus hessischen Staatsarchiven (Darmstadt, Marburg und Wiesbaden) stammt. Das reiche Kartenmaterial hessischer Kommunalarchive (Städte und Kreise) sowie zahlreicher bedeutender Privat- und Adelsarchive fand so – leider ohne weitere Begründung – keine Berücksichtigung. Dies lässt Fragen nach der Repräsentanz der vorgestellten Quellen offen. So verwahrt beispielsweise alleine das Stadtarchiv Wetzlar – dort ist bekanntermaßen der Sitz der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e.V. und des Reichskammergerichtsmuseums mit traditionsreicher Grundlagenerforschung zu den »Augenscheinkarten«1 – circa 4460 Urkunden und 5000 Karten und Pläne.

Der 38. Band der von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal herausgegebenen Reihe »bibliothek altes Reich« – die Reihe versteht sich als ein »innovatives« und »langfristig angelegtes Forum« für Publikationen zum Alten Reich – kündigt mit Blick auf Hessen die mit 132 Textseiten überschaubar gebliebene Neuerscheinung wie folgt an: »Mit der Lokal- und Regionalkartographie hatte sich seit dem späten Mittelalter ein neues Medium entwickelt, das es ermöglichte, die eigene Umgebung zu kartieren. Auch in der Region Hessen entstanden die vielfältigsten Skizzen, Karten und Pläne. Sie variierten nicht nur in Format und Farbe, sondern auch in Darstellungsweise, sodass die bisherige Forschung über ihre Einordnung rätselte. Die vorliegende Studie fragt erstmalig systematisch nach Entstehung, Funktion und Verwendung der verschiedenen Karten für die Periode 1500 bis 1575, indem sie die Beziehung zu den zugehörigen Akten mittels einer Text/Bild-Analyse klärt. Die Untersuchung thematisiert vor allem eine ganz besondere Form der Lokal- und Regionalkartographie in den Fokus, wovon in Hessen viele Karten überliefert sind: Die Augenscheinkarte visualisierte die gerichtliche Inaugenscheinnahme und kartierte die wichtigsten Ansprüche der Kontrahenten in Text und Bild. Durch einen vergleichenden Zugriff auf die vielfältige Aktenüberlieferung wird die komplexe Beziehung zwischen Karten und Akten verdeutlicht«.

Innovativ ist dabei weniger der räumliche Blick, der sich in der Titelführung »Lokal- und Regionalkartographie« niederschlug. Schließlich diente die Mehrzahl der Augenscheinkarten im Kontext geführter Reichskammerprozesse der Sicherung regionaler und örtlicher Grenz- und Rechtsansprüche. Hunderte von Erstaufnahmen kleiner und kleinster Ortschaften finden sich auf den Kartenbeilagen der Prozesse. Innovativer blieb der zeitliche Arbeitsfokus des frühen 16. Jahrhunderts mit Verweisen auf die ältere Kartografie vor der Entstehung des Reichskammergerichts im Jahre 1495. Gerade für das 16. Jahrhundert lässt sich als Folge fortschreitender Territorialisierung und neuer Darstellungstechniken in der Kartografie das Zeichnen (und Drucken) von Augenscheinkarten als oft verwendetes Repräsentationsmittel für Politik und Herrschaftssicherung nachweisen. Zurecht wird dabei die ältere und trennende Einteilung in der Forschung zwischen administrativen, rechtlichen und herrschaftsinszenierenden Funktionen (S. 15) hinterfragt, da auf regionaler Ebene im vielfach bis heute verzeichneten »Flickenteppich«2 des Alten Reiches meist alle drei Komponenten ineinandergriffen. Für die von Timpener gewählten Prozesse des 16. Jahrhunderts war bisher der integrative Zugriff im Verhältnis von Karte und Aktenmaterial keine Selbstverständlichkeit. Bei Arbeiten für spätere Epochen erwies sich dieser umsichtige Zugriff bereits als sehr fruchtbar. Hier wurde im Jahr 2002 mit Daniel Schlögls »Der planvolle Staat«3 für Bayern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Pionierarbeit geleistet.

In der Analyse der im Anhang (S. 145–190) durchweg farbigen, halb- bis ganzseitig dokumentierten 24 Karten folgte Timpener einem insgesamt kleinräumigen Muster. Dennoch hätte die Interpretation mit Blick auf die Reichsgeschichte ein Stück offensiver ausfallen können, da nicht die Kleinheit der gezeichneten Wiesen- und Waldstücke entscheidend blieb, sondern der auch im kleinsten Fallbeispiel hinterlegte Rechtsschatz. Dabei griff man gerade im 16. Jahrhundert wiederholt auf das europaweit hinterlegte Römische Recht zurück. Kleinräumige Visualisierungen mussten deshalb keineswegs nur von örtlicher Bedeutung sein. Andererseits könnte sich der Leser fragen, warum im zu knapp gehaltenen Literaturverzeichnis (S. 134–144) nicht auch der eine oder andere Titel der gerade für die hessische Landesgeschichte wichtigen Ortsliteratur auftaucht. Keineswegs alle Lokal- und Ortsstudien unterhalb urbanistischer Leitlinien lassen wissenschaftlichen Tiefgang missen. Das kartografische Anschauungsmaterial hätte sich so auch ohne aufwändige Archivrecherchen (S. 133f.) dehnen lassen.

Der bei De Gruyter/Oldenbourg ansprechend gestaltete neue Band in der Reihe »bibliothek altes Reich« erfüllt auf jeden Fall die Aufnahmekriterien für ein »innovativ« und »langfristig« geführtes Publikationsforum, denn die Fortschritte der letzten Jahrzehnte in der international geführten Reichskammergerichtserforschung und die von der DFG großzügig geförderte digitale Erfassung archivalischer Kammerüberlieferung in den deutschen Bundesländern geben uns beinahe täglich ebenso neues wie einschlägiges Kartenmaterial an die Hand.

1 Beispielsweise: Anette Baumann, Augenscheinkarten am Reichskammergericht 1495–1806, Wetzlar 2019 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, 47); Anette Baumann, Visuelle Evidenz. Beobachtungen zu Inaugenscheinnahmen und Augenscheinkarten am Reichskammergericht, in: Rechtsgeschichte. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie 27 (2019) S. 458–463; Anette Baumann, Sabine Schmolinsky, Evelien Timpener (Hg.), Raum und Recht. Visualisierung von Rechtsansprüchen in der Vormoderne, Berlin 2020 (bibliothek altes Reich, 29). – Weitere Titel finden sich bei Timpener, S. 134–144.
2 Wolfgang Wüst, Imperial Patchwork. »Flickenteppiche« as a historical metaphor for chaos, federalism and diversity, in: Advances in Social Sciences Research Journal, vol. 9,9 – September 2022, S. 220–235, DOI: 10.14738/assrj.99.13064
3 Daniel Schlögl, Der planvolle Staat. Raumerfassung und Reformen in Bayern 1750–1800, München 2002 (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte, 138).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Wolfgang Wüst, Rezension von/compte rendu de: Evelien Timpener, In Augenschein genommen. Hessische Lokal- und Regionalkartographie in Text und Bild (1500–1575), Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2022, 206 S., 27 Abb. (bibliothek altes Reich, 38), ISBN 978-3-11-077755-0, EUR 59,00., in: Francia-Recensio 2022/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92011