Ausgangspunkt der Untersuchung ist die fragile Körperlichkeit von Herrscherinnen und Herrschern und der Umgang mit dem defizitären Körper um 1700. Das Ziel der Untersuchung lautet, die konkreten Praktiken der betroffenen Untertanen im Umgang mit Krankheit, ausbleibendem Nachwuchs und frühzeitigem Tod von Erben der jeweiligen Dynastie aufzuzeigen. Es sollen so Kompensationsstrategien der Untertanen, ausgelöst durch den gebrechlichen fürstlichen Körper, vorgeführt werden. Im Fokus der Untersuchung steht die Frage nach der Observanz gegenüber dem fürstlichen Körper und davon ausgelöste kulturelle Praktiken, um der Gefahr für die dynastische Herrschaft entgegenzuwirken.

In seiner Einleitung plädiert Tom Tölle für das Überdenken der klassischen Körperpolitik auf historiografischer Untersuchungsebene. Von den Berichten über »princely corporeality« (S. 1) in einem Botschafterschreiben ausgehend, argumentiert der Verfasser »[…] historians need to understand the past role of princely corporeality, its media, its practices, and its actors«. Denn die Körperlichkeit bzw. »Körperwirklichkeit« in den Quellen würde eine heute nicht mehr nachvollziehbare Alltagspraxis bedeuten (S. 3). Tölle definiert »corporeality« im Gegensatz zu »body politics« »[…] as a concept defined by social practices«, und distanziert sich im gleichen Satz von »nonhistorical (biological) matter of the body« (S. 3). Der Autor untersucht »[…] princely corporeality, the sickly dynastic body and the role it played in changing political practice« (S. 3).

Anhand drei miteinander verbundener Argumente will er sich der europäischen Welt der dynastischen Krise um 1700 aus Sicht der Untertanen annähern: erstens haben Untertanen die Spannungen zwischen entstehender Staatlichkeit und den unberechenbaren dynastischen Körpern als persönliches Risiko wahrgenommen. Dies sei zweitens der Ausgangspunkt für politische Veränderung um 1700 europaweit gewesen, da Herrscherhäuser durch den geschwächten dynastischen Körper in ganz Europa mit einer unsicheren Erbfolge konfrontiert waren, drittens begegneten Untertanen diesen Veränderungen ausgehend vom geschwächten Körper des Herrschers mittels Praktiken: »These practices, I argue, impacted on political decision-making in significant, but often unintended ways« (S. 4).

Der Untersuchungszeitraum von 1700 bis 1716 ist vielversprechend, als dass große europäische Dynastien, wie die Bourbonen, die spanischen Habsburger, die Stuarts und das Kaiserhaus aufgrund oben benannter Defizite die Herrschaftsnachfolge und somit die damalige Herrschaftsrealität, unsicher erscheinen ließen und so den Anlass bieten, sich konkret mit Praktiken des Unsicherheitsmanagements der Zeitgenossen auseinanderzusetzen.

Tom Tölle stellt in fünf Kapiteln vier miteinander verbundene dynastische Krisen Europas vor (S. 3). Er führt die Leserinnen und Leser stringent durch sein Werk, indem er die Fallbeispiele der Erbfolgekrisen und -kriege auslösenden »princely frailty« (S. 2) Kompensationspraktiken einiger Untertanen, um mit der fragilen Körperlichkeit der Fürsten umzugehen, gegenüberstellt: »Seeing« (Kap. 1), »Healing« (Kap. 2), »Writing« (Kap. 3), »Interacting« (Kap. 4) und »Feeling« (Kap. 5).

Zunächst geht es im 1. Kapitel um königliches Gebrechen am Hof Karls II. von Spanien in den 1690er-Jahren aus der Sicht britischer Diplomaten. Im 2. Kapitel widmet er sich der Frage, wie durch medizinische Therapie der Erbfolgekrise im britischen Königreich unter Queen Anne entgegengewirkt werden sollte. Im 3. Kapitel führt Tölle vor, wie die Auswirkungen dieser körperlich-dynastischen Defizite der Stuarts durch biologisches Aussterben auch Untertanen im Heiligen Römischen Reich betrafen, da der Erbantritt Georgs von Braunschweig-Lüneburgs als George I. den britischen König im Kurfürstenkolleg aufnahm. Tölle untersucht, wie die britische Erbfolgeregelung nach der Erbfolgekrise seitens Hannovers und Wiens in schriftlichen Zeugnissen uminterpretiert wird: aus dem Bruch wird wenig überraschend ein Kontinuum generiert. Im 4. Kapitel wiederum entsteht die Erbfolgekrise der Bourbonen in Frankreich durch innerfamiliäre Ansteckung während mehrerer Krankheitswellen, die auch Untertanen zu Opfern oder auch Nutznießern der Situation machte. Im letzten Kapitel thematisiert Tölle eine demonstrative Gefühlspolitik seitens der Untertanen anlässlich der lang ersehnten Geburt des habsburgischen Erben Leopold Josephs (sic!), den Sohn Karls VI. 1716.

Tölle gliedert im umfangreichen Fazit sein Ergebnis zur Bemächtigung und Begrenzung des Politischen durch »corporeality«, indem er politische Planbarkeit und das Wissen über den Körper bündelt. Im Unterkapitel zur Vergleichbarkeit dieser untersuchten Fälle auf europäischer Ebene erhebt er den Anspruch, aufgezeigt zu haben, dass diese Bewältigungsstrategien für das Herrschaftssystem im ganzen Kontinent gültig waren. Zusammenfassend konstatiert Tölle, dass in der europäischen Staatenwelt um 1700 Dynastien mit körperlichen Gebrechen ihrer Mitglieder konfrontiert waren, dies Anlass für Diskurse seitens der Untertanen bot, die zu einer neuen politischen Realität führten: »that the political was a category irreducible to the circulation of texts since it long remained rooted in ailing bodies« (S. 252).

Der Arbeit liegt eine umfassende Quellenrecherche in internationalen Archiven zugrunde, ergänzt durch gedruckte Quellen. Die herangezogene Sekundärliteratur ist vielfältig und umfangreich. Das Werk wird abgerundet durch einen Anhang mit Quellenmaterial und erstellten Listen, sowie einem Personenverzeichnis. Tölle führt u. a. drei Listen zu Nachkommen und deren Lebensspanne in den Häusern der Habsburger, Stuarts und Bourbonen an. Insgesamt sind alle Anhänge in Listenform nachlässig gelayoutet. Es ist schade, dass der Appendix 4 »Life Expectancy of Bourbon Royal Children« (S. 297f.) zwei Enkel Ludwigs XIV. zu dessen Kindern macht. Eine redaktionelle gründliche Durchsicht, auch inhaltlich, wäre der vorhergehenden sehr aufwendigen Recherchearbeit angemessen gewesen.

Die Kapitel sind inhaltlich und methodisch eng verzahnt und letztendlich in der Analyse überzeugend, doch erschließt sich das Argument nach Meinung der Rezensentin nur über Umwege. Die Analyse schwächelt leider durch eine inhaltliche Überfrachtung von Methoden und Schauplätzen.

Tom Tölle führt vor Augen, wie zentral Körpergeschichte als Schlüssel zum Verständnis dynastischen Denkens und daraus erfolgender Handlungspraxis in der Frühen Neuzeit ist. Die gottgegebene Herrschaft eines Fürsten ist an dessen körperliche Unversehrtheit gebunden, alles Abweichende wird als Krise wahrgenommen, aus der jedoch neue politische Ideen seitens der Untertanen europaweit entstünden. Durch die Bewältigungspraktiken der Untertanen in Konfrontation mit dem schwächelnden, sterbenden dynastischen Körper entstünde eine neue politische Realität. Welche genau diese nun konkret ist, erschließt sich der Rezensentin auf längere Sicht nicht. Einmal in Anbetracht der Tatsache, dass der europäische Kontinent auch nach dem Untersuchungszeitraum noch Erbfolgekriege, wie den polnischen (1732–1735) und den österreichischen Erbfolgekrieg (1740–1748), meistern musste. Dann auf sprachlicher Ebene: mehr inhaltliche Leserführung schon auf Satzebene wäre dem Erkenntnisgewinn der fundierten Untersuchung zuträglich. Nach Meinung der Rezensentin eröffnet diese Studie viele Fragen, ohne sie stringent zu beantworten. Das mag der inhaltlichen Fülle geschuldet sein, die in der enormen wissenschaftlichen Vorarbeit zutage tritt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Cathérine Annette Ludwig-Ockenfels, Rezension von/compte rendu de: Tom Tölle, Heirs of Flesh and Paper. A European History of Dynastic Knowledge around 1700, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2022, 337 p. (Cultures and Practices of Knowledge in History, 11), ISBN 978-3-11-074460-6, EUR 69,95., in: Francia-Recensio 2022/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92012