Mittelalterliche Dichtungen, die sich mit Karl dem Großen befassen, haben von der deutschen Forschung in der letzten Dekade erfreulicherweise wieder mehr Aufmerksamkeit erfahren. Davon zeugen eine Reihe von Qualifikationsarbeiten, die wichtige Aspekte der Werke neu beleuchtet haben1. Das verstärkte Interesse gründet einerseits in dem Umstand, dass einige Texte endlich in brauchbaren Ausgaben vorliegen, wie die neu editierten Prosaepen Elisabeths von Nassau-Saarbrücken, andererseits in der Veröffentlichung wichtiger Grundlagenarbeiten, die neue Forschungsfelder eröffnet haben, etwa durch Thordis Hennings und Bernd Bastert2. Die 2021 in englischer Sprache erschienene Monografie von Albrecht Classen positioniert sich also in einem aktiven Forschungsfeld. Sie befasst sich mit der deutsche Karlsepik und stellt zugleich einen Beitrag zu dem interdisziplinären Projekt »Charlemagne: A European Icon« dar, das an der University of Bristol angesiedelt ist3.

Classen tritt mit dem Anspruch an, zu ergründen, »how much and how deeply Charlemagne figured generally and specifically in the history of medieval German literature, and hence also in the history of mentality, and German cultural history« (S. 13). Der Studie ist eine Einleitung (S. 1–18) vorangestellt, die eine allgemeine Einführung zu Gegenstand und Ansatz sowie einen knappen Forschungsüberblick liefert. Hier geht Classen auch kurz auf Einhards »Vita Caroli magni« aus dem 9. Jahrhundert als Schlüsseltext für die europäische Tradition der Karlserzählungen und auf die Chronistik ein, die abgesehen von der »Kaiserchronik« (s. Kap. 1) sonst keine Rolle spielt. Auf die Einleitung folgen acht Kapitel, die jeweils einem mittelalterlichen Text oder einer Gruppe von Texten gewidmet sind: 1. die »Kaiserchronik« (12. Jh.), 2. das »Rolandslied« des Pfaffen Konrad (12. Jh.), 3. der »Karl« des Strickers (13. Jh.), 4. der »Karlmeinet« (14. Jh.), 5. die Prosaepen Elisabeths von Nassau-Saarbrücken (15. Jh.), 6. der »Malagis«-Stoff (15. Jh.), 7. das »Zürcher Buch vom heiligen Karl« (16. Jh.) und 8. niederdeutsche und niederländische Texte, wobei in diesem letzten Kapitel insbesondere die bedeutenden Transferprozesse vom niederländischen in den deutschen Sprachraum thematisiert werden. Durch den Einbezug der Bearbeitungen des »Haimonskinder«-Stoffs wird der Fokus dabei auch auf frühneuzeitliche Drucke erweitert (S. 186–195).

Die große Menge von historischen Werken wird auf zweihundert Seiten abgehandelt, was naturgemäß die Darstellung der einzelnen Texte und der dazugehörigen Forschung sehr beschränkt. Den wesentlichen Teil der Ausführungen bilden umfangreiche Inhaltsangaben, die von der wiederkehrenden Frage nach der jeweiligen Darstellung der Karlsfigur zusammengehalten werden. Aus dieser Frage leiten sich meist allgemeine Einschätzungen ab, wie etwa, dass Karl im »Rolandslied« »as a ruler who acts for God here on earth« (S. 44) erscheine, während er im »Malagis« »in the most negative colors possible« (S. 152) dargestellt werde. Vertiefte Analysen der Figurenentwürfe – etwa auch im Hinblick auf die jeweiligen Kontexte – wären wünschenswert gewesen, finden sich aber nur in Ansätzen.

Die Detailliertheit der Ausführungen in den einzelnen Kapiteln schwankt. Während Texte wie der »Malagis« eingehend besprochen werden (S. 129–154), werden von anderen nur Teile dargestellt. Das betrifft besonders den »Karlmeinet«: Classen geht fast ausschließlich auf dessen ersten Teil, der unter dem Titel »Karl und Galie« bekannt ist und die Jugendgeschichte Karls erzählt, ein, was einem komplexen Werk wie dem »Karlmeinet« nicht gerecht werden kann. Die niederländischen Textbeispiele werden mit Ausnahme von »Karl ende Elegast« (S. 171–177) nur kursorisch behandelt, obwohl Classen zurecht deren große Bedeutung für die deutsche Karlstradition hervorhebt (vgl. S. 167). Auch der Umgang mit der Forschung ist wenig einheitlich. Während an manchen Stellen durchaus kritisch auf Forschungspositionen eingegangen wird, fehlt an anderen Stellen jeder Verweis auf wichtige Studien. Das Literaturverzeichnis ist im Hinblick auf die deutsche Forschung lückenhaft4.

Den von Classen formulierten Anspruch, einen Überblick über die Varianten der Darstellung Karls des Großen in der mittelalterlichen Literatur zu geben und damit zugleich einen Beitrag zur Mentalitätsgeschichte zu leisten, kann die Monografie nicht einlösen. Eine Bewertung fällt, insofern sie mit Blick auf mögliche Adressatinnen und Adressaten differenziert zu treffen ist, dennoch schwer: Nicht deutschsprachige Leserinnen und Leser, die auf der Suche nach einem Überblick über Karlsdichtungen des Mittelalters im deutschen und niederländischen Sprachraum sind, werden hier fündig. Sie bekommen einen Eindruck des Inhalts wichtiger Texte und einige Forschungsliteratur an die Hand gegeben, welche eine weiterführende Recherche ermöglicht. Insofern erfüllt das Buch gewiss seinen Zweck im Rahmen des oben erwähnten Forschungsprojekts, welches sich vergleichend den Karlsdarstellungen in unterschiedlichen europäischen Literaturen widmet. Für Leserinnen und Leser hingegen, die in der Lage sind, deutsche Texte zu rezipieren und ein Interesse an einer umfassenden Darstellung der Forschung haben, kann dieses Buch nicht die erste Wahl sein. Zu wenig geht Classen auf die Werke ein, welche weniger beforscht sind und/oder nicht in aktuellen Ausgaben vorliegen. Zudem werden aktuelle Forschungstendenzen nur teilweise dargestellt, und wichtige Studien zu den einzelnen Texten werden nicht genannt. Wer in dieser Hinsicht mehr Orientierung sucht, sollte zu den oben bereits erwähnten Arbeiten von Bastert und Hennings greifen und sie durch die Lektüre jüngerer Aufsatzpublikationen und Einzelstudien ergänzen.

1 Vgl. z. B. Nadine Krolla, Erzählen in der Bewährungsprobe. Studien zur Interpretation und Kontextualisierung der Karlsdichtung »Morant und Galie«, Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen, 239); Lina Herz, Schwieriges Glück. Kernfamilie als Narrativ am Beispiel des »Herzog Herpin«, Berlin 2017 (Philologische Studien und Quellen, 258).
2 Thordis Hennings, Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum. Die Rezeption der Chansons de Geste im 12. und 13. Jahrhundert. Überblick und Fallstudien, Heidelberg 2008 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte); Bernd Bastert, Helden als Heilige. Chanson-de-geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum, Tübingen, Basel 2010 (Bibliotheca Germanica, 54).
4 So fehlen die beiden oben bereits genannten Studien von Krolla zum »Karlmeinet« und von Herz zum »Herzog Herpin« sowie deren Aufsatzpublikationen ebenso wie etwa die Arbeiten von Anne-Katrin Federow oder die Aufsätze zum »Rolandslied« von Anette Gerok-Reiter.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Johannes Traulsen, Rezension von/compte rendu de: Albrecht Classen, Charlemagne in Medieval German and Dutch Literature, Cambridge (D. S. Brewer) 2021, VIII–250 p. (Bristol Studies in Medieval Cultures), ISBN 978-1-84384-583-6, GBP 75,00., in: Francia-Recensio 2022/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92090