Das klösterliche Modell als Laboratorium der Moderne zu betrachten, ist selbst modern und doch nicht neu. Gerade das 12. und 13. Jahrhundert brachte tatsächlich zahlreiche Innovationsleistungen klösterlichen Lebens hervor, welche die europäisch-christliche Kultur teilweise bis heute prägen – sei es die Bedeutung des Gewissens, sei es die Neubewertung des Spielens, seien es Verfahren der Entscheidungsfindung oder ganz allgemein Vorformen demokratischer Wahlen.
Jacques Dalarun, sicher einer der besten Kenner des mittelalterlichen Religiosentums, stellt nun eine Sammlung von neun seiner zwischen 2001 und 2018 veröffentlichten Aufsätze unter genau dieser Perspektive des Innovativen zusammen. Diese diversen Tagungen erwachsenen Beiträge hat Dalarun dabei leicht geglättet, bisweilen in ihrem Arrangement etwas umgestellt und partiell im Hinblick auf das Anliegen seines Buches zugespitzt. Diesem Anliegen, nämlich die Wirkmacht des monastischen Modells (modèle monastique) und seines im Vergleich zur umgebenden Welt eigentlich »paradoxen Habitus« als jenes Laboratorium der Moderne zu beschreiben, nähert sich der Autor vor allem auf drei komplementären Ebenen. Er untersucht klösterliches Leben zum Ersten als Modell der Regelhaftigkeit, vor allem orientiert an der Benediktsregel und den Statuten von Fontevrault. Er betrachtet es zum Zweiten als Modell der Vollkommenheit, die etwa im Rahmen der Liturgie bereits jetzt das Jenseits erahnen ließ. Er diskutiert es zum Dritten als institutionelles Modell, das für zahlreiche Institutionen der Moderne – von Schulen, Krankenhäusern oder Fabriken bis hin zu Gefängnissen – mindestens partiell beispielgebend wurde.
Bereits im mittelalterlichen Kloster flossen, so Dalarun, offensichtlich diverse »institutionelle Modelle« und anthropologische Grundkonstanten auch aus anderen Kulturen zusammen, um nun mit Christus als dem Modell aller Modelle neu in die christliche Welt zu wirken und sie zu prägen (S. 9–10). Das Kloster, so Dalarun, war ein verkleinertes Modell der Welt, ihr Leitfaden und ihre Reinheit (»son modèle réduit, son guide et son épure«, S. 8), und es war zugleich ein Schlüsselteil im Räderwerk der Welt, geadelt durch die Teilnahme am Gottesdienst, zeitlos durch Rastlosigkeit und einen Körper bildend durch gemeinsames Essen und gemeinsames Schlafen.
In einem ersten, dem kürzesten, Kapitel (S. 23–26) widmet sich Dalarun den allgemeinen Vorbedingungen, mithin der Transformation des gesellschaftlich dominierenden Abstammungsprinzips hin zur spirituellen Verwandtschaft. In dieser Hinsicht und das gesamte Buch hindurch betont er zu Recht, dass gerade das weibliche Religiosentum keine Art Auswuchs des Mönchtums war, sondern im Gegenteil einen zentralen Aspekt desselben darstellte. Im zweiten Kapitel (S. 27–38) beschreibt er die fundamentale Bedeutung der Benediktsregel, die mit durchschlagendem Erfolg permanent – Tag und Nacht – einen Geist der Einheit geschaffen habe, wie dies auch moderne Institutionen versuchten. Im dritten Kapitel (S. 39–56) erwägt Dalarun eine Relektüre Rodulf Glabers. Er akzentuiert die Bedeutung des Teufels, der Versuchung, bei der Abschottung von der Welt. Nur wer die Welt verlasse, könne sie und sich selbst retten. Im vierten Kapitel (S. 57–73) befasst sich der Autor mit dem in Bérard des Marses personifizierten Verhältnis von Kloster und Episkopat, denn Bérard habe in der Umsetzung des Gleichnisses vom guten Hirten das Modell des guten Abts innovativ auf die Regierungsweise des Bischofs übertragen. Im fünften Kapitel (S. 75–86) widmet sich Dalarun am Beispiel des Wirkens Abaelards dem weiblichen Mönchtum und dem Spannungsfeld aus Kloster und Freiheit, Virginität und Immunität. Das sechste, umfangreichste, Kapitel (S. 87–127) bringt die innovatorische Kraft der Statuten zum Ausdruck. Gerade hierfür stellt die Verfasstheit des Ordens von Fontevrault, in dem Männer und Nonnen unter einer Äbtissin lebten, spannende Aspekte bereit. Im siebenten Kapitel (S. 135–156) begibt sich Dalarun hinein in die Überlieferungslage und die grundlegenden Inhalte des Briefwechsels zwischen Héloïse und Ablaelard. Im achten Kapitel (S. 157–176) beschreibt Dalarun die Wahlverfahren, namentlich diejenigen der Benediktsregel und (daraus abgeleitet) diejenigen bei den Cluniazensern, Kartäusern, Grandmontensern, Viktorinern und Franziskanern als Vorformen moderner Wahlverfahren, bei denen auch Frauen – wie sonst nirgendwo in der christlichen Kultur des Mittelalters – (freilich innerhalb ihres Konvents) Wahlrecht besaßen. In einem abschließenden Kapitel (S. 177–189) fragt Dalarun nach der Sicht der Anderen. Hier bringt er vor allem die Forschungen von Giorgio Agamben, Max Weber oder Michel Foucault treffsicher in die eigene Perspektive ein.
Die einzelnen Aufsätze sind bereits für sich genommen ein Gewinn. Zugleich sind sie so gewählt, dass sie ein möglichst breites Quellenspektrum abdecken, das von klassischen Regeltexten (»Benedikt«, Stephan, Franziskus) über die Gewohnheiten und Statuten Clunys, der Zisterzienser oder des Ordens von Fontevrault, die Chronik des Rodulf Glaber und Viten, etwa Roberts von Arbrissel und Bérards des Marches, bis hin zum Briefwechsel zwischen Abaelard und Héloïse reicht.
Zweifelsfrei, das Buch von Jacques Dalarun ist quellen- und kenntnisreich. Ein Register wäre dem Band zu empfehlen gewesen, gerade um die Homogenität der Fragestellung weiter zu unterstreichen. Vor allem aber hätte man sich gewünscht, dass die Arbeiten des von der Sächsischen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften getragenen Projekts: »Klöster im Hochmittelalter. Innovationslabore europäischer Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle« zumindest in der Einleitung Erwähnung gefunden hätten. Denn dieses beschäftigt sich – mit einer durchaus beachtlichen Publikationsliste – seit nunmehr über zehn Jahren mit genau den Fragen und Zeitfenstern des Buches. Am Ende steht erneut die Feststellung des Anfangs: Das Thema dieses in hohem Maße lesens- und empfehlenswerten Buches ist modern, aber nicht neu.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jörg Sonntag, Rezension von/compte rendu de: Jacques Dalarun, Modèle monastique. Un laboratoire de la modernité, Paris (CNRS Éditions) 2019, 319 p., ISBN 978-2-271-12154-7, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2022/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92094