Diese umfangreiche Arbeit beleuchtet die früh- und hochmittelalterliche Geschichte der Abtei Marchiennes aus vielen Blickwinkeln. Es handelt sich dabei um ein kleines, der Benediktinerregel folgendes Kloster aus dem Tal der Scarpe, einem Fluss im Süden der Grafschaft Flandern, entlang dessen es viele monastische Gründungen gab. Im ersten großen Kapitel wird auf die oft etwas stürmische Entwicklung des Monasteriums eingegangen: wie es (I.1.) vom 7. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts (vermutlich) ein Doppelkloster war, (I.2.) vom Ende des 11. bis zum Anfang des 12. Jahrhunderts von einer Reform (Saint-Vanne) zur anderen (Saint-Amand) schwenkte und dann (I.3.) in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts wieder eine gewisse interne und externe Stabilität fand.
Auf den historischen Teil folgt die Diplomatik: zuerst eine recht kurze, aber tiefreichende Analyse des Urkundenschatzes und der Chartulare der Abtei, vor allem aber die Edition der bis 1202 ausgestellten Urkunden für das Benediktinerkloster von Marchiennes. Diese hervorragende Veröffentlichung ist mit sehr klaren, wenngleich knappen Fußnoten versehen; einzig bedauerlich ist die fehlende Unterscheidung zwischen Regesten und Erwähnung in der Literatur. Am Schluss folgen verschiedene Anhänge, die das Verständnis der Abteigeschichte deutlich erleichtern: eine Liste der Äbte, der Herren von Landas – Vögte und traditionelle Feinde des Klosters – (übrigens sehr gut ausgearbeitet, nur wurde leider Mathilde von Cauroir mit Corroy verwechselt), der Höfe von Marchiennes und zum Schluss noch eine Sammlung lateinischer Notizen der im Kloster vollzogenen Altarweihen und vorhandenen Reliquien. Das Buch schließt mit einem (nahezu) vollständigen Verzeichnis der genannten Personen und Ortschaften ab. Da der Autor ein erfahrener und verdienstvoller Diplomatiker und Editor ist, überrascht es kaum, dass sich die wenigen Ungenauigkeiten (vor allem in den Fremdsprachen) oder Ungereimtheiten (manche Namen werden zum Teil auf die eine, zum Teil auf eine andere Weise geschrieben) eher im historischen Teil als in der Edition finden.
Bezüglich der frühen Geschichte der Abtei ist verständlicherweise vieles unklar und sehr abhängig von der Brille des Historikers. Daher stellt sich die Frage, ob bestimmte Elemente nicht noch weiter vertieft bzw. anders gedeutet werden könnten. So zum Beispiel die Rolle der Frauen in der Anfangszeit: Wurde diese, im Licht der langsam zunehmenden Präsenz und Dominanz der gottgeweihten Männer in Marchiennes, nicht von den aus dem Umfeld der mächtigen Männerabtei Saint-Amand stammenden Reformern im 12. Jahrhundert bewusst herabgestuft? Eine ähnliche Bemerkung drängt sich in Bezug auf die angebliche Verschwendung der Abteigüter durch Abt Volkhard von Landas (vgl. S. 111f.) auf: Auch dies scheint wohl vor allem die Perspektive der jüngeren Reformer um Abt Amand de Castello (1116–1136; vermutlich gebürtig aus Le Cattelet zu Flines, wo Marchiennes auch Grundbesitz hatte, vgl. S. 348f.) auf eine frühere Phase des Klosterlebens widerzuspiegeln, wo es eine kleine Gemeinschaft betagter, aber (wenigstens teilweise) hochadliger Mönche mit sehr engen familiären Bindungen gab. Diese Episode wie auch die Erzählungen der Karolingerzeit (S. 79f.), rufen die Frage hervor, ob die Bedeutung der lokalen adligen Familien für das Abteileben vom Autor nicht etwas unterschätzt wird. Das Gegenteil ist allerdings wieder feststellbar, wenn die Altarrestitutionen am Anfang des 12. Jahrhunderts behandelt werden (S. 127f.), wobei die zeremonielle Rolle des Bischofs auch als Realität angenommen wird, ohne kritisch zu hinterfragen, ob er tatsächlich die betroffenen Altäre geschenkt hat.
Es ist weiterhin manchmal etwas schade, dass festgestellte Krisen in der Abtei (wie zum Beispiel die Sukzessionskrisen um 1140 und 1200, vgl. S. 168) nicht mit dem breiteren politischen Umfeld der Grafschaft Flandern verglichen werden, wo zeitgleich ebenfalls Krisenmomente zutage treten. Wenig detailliert, aber sehr interessant sind auch die Angaben zu den vielen Nebenhäusern (ein Priorat und 12 bis 16 Höfe), die darauf hinweisen, dass fast die Hälfte der 50 Mönche von Marchiennes außerhalb der Abtei wohnte (vgl. S. 122, 130–138). Es lässt sich also fragen, ob die Aufgabe mancher Höfe am Ende des 13. Jahrhunderts nicht eher mit Personalmangel als mit Geldmangel zu tun hatten (vgl. S. 138).
All diese Elemente bezüglich der Geschichte von Marchiennes als Abtei, die immer eine zweitrangige Stelle im lokalen, religiösen und (grund)herrlichen Kontext einnahm, erklären, wieso diese Abtei über so einen großen und gut erhaltenen Urkundenschatz (72 % der edierten Urkunden sind noch original überliefert) verfügt: Das Benediktinerkloster musste aufmerksam seine Rechte behüten und verwerten, um standfest zu bleiben im Spiel der regionalen Mächte (vgl. S. 157). Bemerkenswert sind die vielen Hinweise auf einen starken Zusammenhang zwischen der Urkundenproduktion und der Person des Abtes (wie auch der Stabilität seiner Autorität, vgl. S. 167f., 174, 189). Es zeichnet sich somit eine wichtige Rolle des Abtes in der Domanialverwaltung ab, obwohl auf S. 187 auch auf eine Aktivität des Priors bei der Erstellung des ersten Chartulars hingewiesen wird.
Hinsichtlich der praktischen Komponente wird erwähnt (S. 175, 187–190), dass der Schreiber, der verschiedene Urkunden u. a. im ersten Chartular (vom Autor überzeugenderweise auf 1171–1172 datiert, vgl. S. 185f., 192) und mehrere Fälschungen erstellte, wahrscheinlich auch mit dem armarius (Bibliothekar – und Sakristan?) identisch war. Diese Identifikation (für die auch spricht, dass eher der Prior als der Cellerar in die Urkundentätigkeit einbezogen war) würde darauf hinweisen, dass die praktische Schriftproduktion in Marchiennes wohl noch eher mit dem liturgisch-religiösen Skriptorium als mit der Domanialverwaltung verbunden war. Viel Interessantes lässt sich also dieser detailreichen Studie und vor allem der Edition der frühesten Urkunden von Marchiennes entnehmen – einer Arbeit, die hoffen lässt, dass die vielen Ergebnisse im breiteren historiografischen Rahmen wieder aufgenommen werden.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Robin Moens, Rezension von/compte rendu de: Jean-Pierre Gerzaguet, L’abbaye de Marchiennes milieu VIIe–début XIIIe siècle. Du monastère familial à l’abbaye bénédictine d’hommes: histoire et chartes, Turnhout (Brepols) 2022, 485 p., 17 ill. (Atelier de recherche sur les textes médiévaux [ARTEM], 32), ISBN 978-2-503-59472-9, EUR 95,00., in: Francia-Recensio 2022/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92107