Der Fokus des Buches liegt auf dem sog. »Riesencodex« (46 x 30 cm) mit Werken Hildegards von Bingen (1098–1179) und auf seiner Geschichte, vor allem in den Jahren während des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach. Es handelt sich bei dieser Handschrift um eine systematische Gesamtausgabe der Schriften Hildegards, mit Ausnahme der naturwissenschaftlichen und medizinischen Werke. Hinzu kommen eine »Vita Hildegardis« und ein Brief, geschrieben an die Schwestern nach ihrem Tod. Der Inhalt und die paläografischen Merkmale bieten die Anhaltspunkte für die Datierung: Die Handschrift wurde in Hildegards Kloster auf dem Rupertsberg im ausgehenden 12. Jahrhundert angefertigt. Die Dekoration der Handschrift besteht aus Spaltleisten- und anderen einfacheren Initialen in roter Tinte, die Textsammlung ist von großer Bedeutung nicht nur für die Persönlichkeit Hildegards von Bingen, sondern auch für die Geschichte, die Spiritualität und die lateinische Literatur des 12. Jahrhunderts. Im 17. Jahrhundert siedelten die Nonnen ins Kloster Eibingen um; eine neue Abtei entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Anhöhe über dem Dorf Eibingen; der »Codex« war aber schon 1814, nach der Auflösung des Klosters im Zuge der Säkularisation, in die Nassauische Öffentliche Bibliothek zu Wiesbaden gekommen. Die Eigentumsverhältnisse des »Codex« spielen bei allen Etappen der Geschichte eine wichtige Rolle (vgl. S. 40–43).

Heute befindet sich die Handschrift samt spätmittelalterlichem Einband und Originalverkettung in der Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain (Wiesbaden) mit der Signatur Hs. 2. Ein vollständiges Digitalisat der Handschrift ist auf der Homepage der Bibliothek abrufbar. Seit Januar 2011 bilden die Bibliothek der Hochschule RheinMain und die frühere Hessische Landesbibliothek gemeinsam die Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain.

Wegen der Gefahren des Krieges wurde 1942 der »Riesencodex« zusammen mit anderen wertvollen Handschriften und einer Inkunabel von Wiesbaden ausnahmsweise in eine andere große Stadt ausgelagert. Er wurde in Dresden in der 1931 umgebauten Girozentrale deponiert. Damit begann das Schicksal der Handschrift, das sich zwischen Ost und West abspielte, im Rahmen der immer komplizierter werdenden Beziehungen zwischen Personen und Institutionen in den verschiedenen Besatzungszonen, dann in den zwei Staaten, Bundesrepublik und DDR, die 1949 mit allen ihren politischen und ideologischen Implikationen gegründet wurden. Die Handschrift entging in Dresden sowohl den Bomben als auch den Beschlagnahmungen der sowjetischen Besatzungsmacht.

Entscheidend für die singuläre Geschichte des Rücktransportes dieser Handschrift nach Wiesbaden war die Figur der damaligen Mitarbeiterin der Monumenta Germaniae historica in Berlin, Margarete Kühn (1894–1986), der im Buch besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Durch ihre persönliche Geschichte und ihre spirituellen Beweggründe kam sie in das Kloster nach Eibingen und erfuhr dort von dem Verbleib des wertvollen »Codex« in Dresden; durch ihre Stelle (als Grenzgängerin in Ostberlin) und ihre wissenschaftliche Tätigkeit als Editorin mittelalterlicher Texte konnte sie ein Projekt der Edition der Briefe und der Vita Hildegards von Bingen in Zusammenarbeit mit den gelehrten Nonnen des Klosters St. Hildegard und damit den Plan einer »Rettung« der Handschrift in Gang setzen. Dieser nahm auf Grund der historischen Ereignisse und der persönlichen Umstände viele Wendungen im Laufe der Jahre, bis zu einem Epilog im Jahr 1950.

Die gründliche Analyse der verschiedenen Dokumente erlaubt, über die durchaus spektakuläre Geschichte des »Codex« hinaus, die hier nicht in allen Details verraten werden soll, Einblicke in die wissenschaftlichen Institutionen und deren Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland, wie die Monumenta Germaniae historica oder die Akademie der Wissenschaften in Berlin, ihre wissenschaftlichen Projekte und Strukturen. Dazu werden auch weitere Bereiche der damaligen Gesellschaft und Kultur sichtbar, wie beispielsweise die geistlichen und liturgischen Bewegungen in Deutschland vor dem Krieg sowie die Bemühungen der Bibliotheken zum Schutz der Kulturgüter bzw. die Ansprüche der neuen Zentralverwaltung für Volksbildung (später Ministerium) im Osten. Auch die einzelnen Persönlichkeiten, vor allem die von Margarete Kühn oder des Bibliothekars der Landesbibliothek Wiesbaden Franz Götting (1905–1973), werden im Kontext eines Netzwerks von weiteren Akteuren, Eingeweihten, Helfern und Konkurrenten in ihren Motivationen, Konflikten oder Anpassungen an die veränderten und verhärteten Fronten ausführlich beleuchtet.

Der Band ist klar gegliedert, die Geschichte wird in spannender Art und Weise erzählt und ist mit einem Apparat von wissenschaftlichen Belegen sowie qualitätsvollen Bildern des »Codex« und von weiteren Zeugnissen aus dem 20. Jahrhundert ausgestattet. Das große Verdienst des Buches liegt in der Auswertung von bisher unberücksichtigten und unedierten Quellen: Dokumenten aus verschiedenen Archiven in Berlin, München, Dresden, der Abtei St. Hildegard in Eibingen, darunter Briefe (z. T. auch im Privatbesitz), Annalen des Klosters, etc. Diese Quellen präzisieren, berichtigen und vervollständigen die bisherigen Kenntnisse über den Fall und die damit involvierten Personen.

Der geglückte frühe Rücktransport zuerst nach Eibingen im Jahr 1948, nicht ohne die Hilfe der Amerikaner, und dann wieder nach Wiesbaden 1949 in die Landesbibliothek, bleibt eine Ausnahme. Viele Handschriften aus derselben Bibliothek, darunter ein illuminierter Codex mit dem Werk »Scivias«, gelten noch als verschollen (siehe Listen S. 207–209). Damit macht das Buch auch auf ein weiteres und aktuelles Forschungsfeld aufmerksam: die Geschichte mittelalterlicher Handschriften aus deutschen Bibliotheken seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie Beispiele aus den ehemaligen Beständen in Halberstadt oder Lübeck zeigen, sind neue Entdeckungen und weitere erstaunliche Vorfälle bis in unsere Tage möglich.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Patrizia Carmassi, Rezension von/compte rendu de: Christiane Heinemann, Der Riesencodex der Hildegard von Bingen. Verschollen – Gefunden – Gerettet. Schicksalswege 1942 bis 1950, Wiesbaden (Historische Kommission für Nassau) 2021, 258 S., (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, 94), ISBN 978-3-930221-41-7, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2022/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92110