Zu dem von Eike von Repgow vor 1235 erstellten Sachsenspiegel, der das Recht der Sachsen »spiegeln«, also verschriftlichen sollte, schrieb rund 100 Jahre später Johann von Buch einen Kommentar, in dem er den Sachsenspiegeltext vor gelehrt-rechtlichem Hintergrund erläuterte und ihn mit Hilfe von Allegationen mit dem römischen Recht wie dem Kirchenrecht verknüpfte. In diesen Glossen zum Sachsenspiegel begegneten sich somit gelehrtes Recht, also römisches und kanonisches Recht sowie dessen akademische Bearbeitung, und ungelehrtes, einheimisches Recht, also der Sachsenspiegel. Johann von Buch war der erste, aber nicht der einzige, der beide Rechtsmaterien verband: Ein – ansonsten unbekannt gebliebener – Petrus von Posena überarbeitete in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts (vor 1434?) die Buch’sche Glosse; diese Erläuterung des Sachsenspiegels ist nach dem Namen des Autors als Petrinische Glosse bekannt geworden.
Die Petrinische Glosse legt Frank-Michael Kaufmann nun als Edition vor und setzt damit seine Editionstätigkeit im Umfeld Johanns von Buch fort. Die Edition entstand an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in Leipzig, die seit 1994 eine Forschungsstelle der Monumenta Germaniae Historica (München) beherbergt. Zunächst konnte Kaufmann 2002 eine kritische Edition der Buch’schen Glosse zum Sachsenspiegel-Landrecht vorlegen, sodann widmete er sich der kürzeren wie der längeren Glosse zum Sachsenspiegel-Lehnrecht (erschienen 2006 bzw. 2013). 2021 erschien nun die vierte Edition dieses Projekts. Mit ihr wendet sich das Akademieprojekt den weniger überlieferten Glossen zum Landrecht zu, die auch als »Zusatzglossen« bekannt sind, nämlich der Wurm’schen Glosse, der Tzerstedischen Glosse, der Stendaler Glosse, der Bocksdorf’schen Vulgata und der hier behandelten Petrinischen Glosse.
Die Edition der Petrinischen Glosse fügt sich optisch wie qualitativ in die Reihe vorheriger Editionen ein. Nach einer Beschreibung der – wenigen – Handschriften, die diese Glosse überliefern, folgt die eigentliche Edition; Register zu Namen wie vor allem zu Quellen runden die dreibändige Edition ab und ermöglichen einen inhaltlichen Zugriff auf den Text.
Die Edition erlaubt einen Blick auf die Arbeitsweise des Petrus von Posena: Er nahm die Buch’sche Glosse als Grundlage, überarbeitete diese jedoch, indem er sie teilweise erweiterte und ergänzte, teilweise umformulierte und kürzte; immer wieder tilgte Petrus von Posena Hinweise auf Johann von Buch (siehe S. XXIX–XXXVII). Vor allem aber ergänzte er Verweise auf das kanonische Recht, insbesondere auf das »Decretum Gratiani« und den »Liber Extra«, das nun zwar noch immer schwächer als das römische Recht, aber doch deutlich stärker als noch in der Buch’schen Glosse Berücksichtigung fand (S. XXIII–XXV). Offen bleibt der Grund für diese Verschiebung: Ist Petrus von Posena, der in der Leithandschrift als Doktor beider Rechte und Lizenziat der artes benannt wird (S. XXI), kirchennäher als Johann von Buch? Zielte er auf einen anderen Leserkreis als Johann? Oder wuchs schlichtweg die Bedeutung des Kirchenrechts als Referenzrechtsquelle innerhalb eines Jahrhunderts? Hier ergeben sich weiterführende Fragen, die aus der Edition erwachsen.
Auffällig ist ferner bei dem – mit gewissen Unsicherheiten behafteten – Stemma, dass alle weiteren bekannten Handschriften der Petrinischen Glosse von einer maßgeblichen Handschrift (nämlich Breslau/Wrocław, Biblioteka Uniwersytecka, II F 6) abgeleitet sind. Lag diese Handschrift an einem »zentralen Ort«, beispielsweise einem leistungsfähigen Skriptorium? Und wo war dieses? Solche Fragen bleiben in der Edition unbeantwortet; auch hier lädt sie zum Weiterdenken ein.
Eine letzte Beobachtung: Bemerkenswerterweise schätzt der Herausgeber die Qualität der Petrinischen Glosse nicht sonderlich, wie er explizit – jedoch ohne weitere Begründung – schreibt: »An die Qualität ihrer Vorlage reicht sie nach Ansicht des Herausgebers der vorliegenden Edition kaum heran« (S. XXI). Hat sich die jahrlange Arbeit an der Edition der nur vollständig in vier Handschriften überlieferten Petrinischen Glosse dann überhaupt gelohnt? Aus Sicht des Rezensenten ist die Frage zu bejahen, bieten die nun vorliegenden Editionen der Glossen zum Sachsenspiegel doch die Möglichkeit, Veränderungen und Entwicklungen im halbgelehrten Wissen des ausgehenden Mittelalters nachzuspüren. Insbesondere die stärkere Berücksichtigung des kanonischen Rechts ist doch einen zweiten Blick wert. Insofern sollte man die vermeintlich schlechtere Qualität der Petrinischen Glosse nicht überbewerten, sondern ihrer Andersartigkeit nachspüren. Los geht’s!
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Stephan Dusil, Rezension von/compte rendu de: Frank-Michael Kaufmann (Hg.), Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht. Petrinische Glosse, 3 Bde., Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2021, CIV–1260 S., 16 Abb. (Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris Germanici antiqui. Nova series, 11), ISBN 978-3-447-11553-7, EUR 220,00., in: Francia-Recensio 2022/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92112