In den letzten beiden Jahrzehnten ist der Pontifikat Leos IX. (1049–1054) zunehmend in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt. 2002 veröffentlichte Rudolf Schieffer einen einschlägigen Beitrag, der in der Amtszeit des ehemaligen Bischofs von Toul einen Wendepunkt in der Geschichte des Papsttums sah, da sich erst ab 1049 die reaktive Haltung des apostolischen Stuhls zu einem aktiven Regierungsstil entwickelt habe1. 2006 erschien ein von Georges Bischoff und Benoît-Michel Tock herausgegebene Tagungsband, der sich verschiedenen Aspekten der historischen Person Brunos von Egisheim-Dagsburg bzw. Leos IX. widmete, dabei aber einen deutlichen Fokus auf sein Wirken und Nachwirken im Elsass und in Oberlothringen setzte2. Die Bedeutung dieses Pontifikats für die Papstgeschichte wurde auch in zwei 2008 und 2012 veröffentlichten, von Jochen Johrendt und Harald Müller herausgegebenen Sammelwerken über Rom und die Regionen gebührend betont, denn erst unter diesem Papst sollen herkömmliche päpstliche Ansprüche einen Weg zur nachhaltigen Verwirklichung gefunden haben3. Mit Karl Augustin Frechs Publikation der Papstregesten für die Jahre 1046–1058 verfügen wir abschließend seit 2011 über ein grundlegendes Arbeitsmittel zur Untersuchung Leos IX. und seines Pontifikats4.

Der vorliegende, auf eine Wuppertaler Tagung von 2018 zurückgehende Sammelband baut auf den genannten Studien auf, bietet jedoch durch die Berücksichtigung von bisher vernachlässigten Themen eine sinnvolle Ergänzung und zeichnet sich durch eigene durchaus originelle Akzentsetzungen aus. Der einleitende Beitrag des Herausgebers Francesco Massetti (S. 13–44) resümiert die Ergebnisse einer sich im Druck befindenden Dissertation. Hier geht Massetti von einem umfassenden, auf Petrus zentrierten ekklesiologischen Programm Leos IX. aus, das unter gezielter Inanspruchnahme des Kirchenrechts zwischen 1049 und 1054 in einer Reihe von Reformmaßnahmen und Grundsatzentscheidungen zur Anwendung gekommen sei. Massetti hebt insbesondere die Synodaltätigkeit, die vielen Reisen und die damit verbundenen Weihen und Konsekrationen, die Territorialpolitik in Mittel- und Unteritalien sowie die folgenschwere Positionierung Leos IX. im Rahmen der Streitigkeiten mit der afrikanischen und griechischen Kirche hervor.

Die beiden Beiträge der ersten Sektion sind der Tätigkeit Brunos als Bischof von Toul gewidmet. Pieter Byttebier macht plausibel, dass die vom künftigen Papst erlernte und gepflegte bischöfliche Führungskultur (episcopal leadership) maßgeblichen Einfluss auf seine spätere Amtsführung als Oberhaupt der lateinischen Kirche hatte (S. 47–68). Ian Patrick McDole geht auf die in den 1030er-Jahren entstandene »Vita Gerardi episcopi Tullensis«, die Lebensbeschreibung von Brunos Vorgänger, sowie auf die noch zu Brunos Lebzeiten begonnene »Vita Leonis« ein und unterstreicht das in beiden Texten mit idealen Zügen gefärbte Verhältnis zwischen Bischof und Mönchtum (S. 69–86).

Die zweite Sektion behandelt die Beziehungen zwischen Leo IX. und dem nordalpinen Reich. Hannes Engl arbeitet eine Kontinuität zwischen der Klosterpolitik des Papstes und der bischöflichen Förderung von Eigenklöstern heraus und betont zugleich die im monastischen Bereich feststellbare langfristige Wirkung der Präsenz Leos IX. in Oberlothringen (S. 89–106). Einen Wendecharakter spricht dem Pontifikat Leos IX. Matthias Schrörs Beitrag über den elsässischen Papst und die rheinischen Metropoliten zu, denn erst ab dieser Zeit sei es zu einer Intensivierung der Beziehungen zwischen Trier, Köln und Mainz einerseits und dem apostolischen Stuhl andererseits gekommen, wobei der Papst bei Rangstreitigkeiten zwischen den Erzbischöfen zunehmend als richterliche Instanz in Anspruch genommen worden sei (S. 107–145). Das Verhältnis zwischen Leo IX. und Kaiser Heinrich III. ist Gegenstand des Beitrags von Timo Bollen, der eine schrittweise Verschlechterung der Beziehungen konstatiert, die schließlich in der fehlenden militärischen Unterstützung des Saliers anlässlich des Normannenfeldzugs des Papstes kulminierte (S. 147–183). Die unmittelbare Entourage Leos IX. fasst Nicolangelo D’Acunto in den Blick und plädiert dabei aufgrund der dort vorkommenden sozialen Dynamiken sowie des ansetzenden Prozesses der »Imperialisierung« der römischen Kirche für eine Charakterisierung dieser Entourage eher als Hof denn als Kurie (S. 185–194).

Der Aufsatz von Umberto Longo, der die der italienischen Halbinsel gewidmete Sektion eröffnet, untersucht die Klosterpolitik Leos IX. in Mittelitalien und stellt eine kontingenz- und situationsgeleitete Wirkungsweise des Papstes fest, der weit davon entfernt war, nordalpine Ansätze auf einen anderen geografischen und politischen Raum zu übertragen (S. 197–208). Corrado Zedda behandelt zwei nicht unproblematische Quellen – eine kopial überlieferte Urkunde Leos IX. für Nonantola und den Bericht »De inventione et translatione sanguinis Domini« – und stellt auf deren Grundlage einige aus Sicht des Rezensenten nicht uneingeschränkt überzeugende Hypothesen bezüglich der Beziehungen zwischen Leo IX. und Bonifaz von Canossa auf (S. 209–224).

Der Ekklesiologie Leos IX. ist die vierte und letzte Sektion des Bandes gewidmet. Das Besondere an der Auffassung Leos IX. der päpstlichen Nichtjudizierbarkeit sieht Sabrina Blank darin, dass diese – wohl in Anlehnung an Papstbriefe des 9. Jahrhunderts – als Konsequenz des Jurisdiktionsprimats ausgelegt wurde (S. 227–241). Leos Ekklesiologie wird zu guter Letzt im Aufsatz von Valerio Polidori lediglich ex negativo greifbar, denn hier werden hauptsächlich die vom Patriarchen Petrus III. von Antiochien an den Papst gerichteten Briefe analysiert, aus denen eine traditionsgebundene und zugleich ökumenische Perspektive hervorgegangen sei.

Am Ende bleibt festzuhalten, dass es dem Herausgeber und den Autorinnen und Autoren durchaus gelungen ist, trotz der Fülle an Publikationen der letzten Jahrzehnte neue Blicke auf Leo IX. und dessen Pontifikat zu werfen. Obwohl einige der veröffentlichten Studien an anderen Orten und in anderen Sprachen bereits erschienen waren, sind sie jetzt in einem sinnvoll gebündelten Zusammenhang zugänglich. Vor allem Massettis These einer umfassenden ekklesiologischen Konzeption, welche die praktische Tätigkeit des Papstes wesentlich bestimmt habe, erweist sich als anregend und wird auf Basis seiner sich im Druck befindenden Monografie näher zu diskutieren sein.

1 Rudolf Schieffer, Motu proprio. Über die papstgeschichtliche Wende im 11. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 27–41.
2 Georges Bischoff, Benoît-Michel Tock (Hg.), Léon IX et son temps, Turnhout 2006 (ARTEM. Atelier de recherche sur les textes médiévaux, 8).
3 Jochen Johrendt, Harald Müller (Hg.), Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III., Berlin, New York 2008 (Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse. Neue Folge, 2); dies. (Hg.), Rom und die Regionen. Studien zur Homogenisierung der lateinischen Kirche im Hochmittelalter, Berlin, Boston 2012 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse. Neue Folge, 19).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Étienne Doublier, Rezension von/compte rendu de: Francesco Massetti (Hg.), Un vescovo imperiale sulla cattedra di Pietro. Il pontificato di Leone IX (1049–1054) tra »regnum« e »sacerdotium«, Mailand (Vita e Pensiero) 2021, 257 p. (Ordines, 12), ISBN 978-88-343-4234-3, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2022/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92118