Das vorliegende Buch ist bereits Yossi Maureys viertes über Heiligenoffizien und spezifische liturgische Feste. Die vorherigen Werke befassten sich mit dem Martinskult (»Medieval Music, Legend and the Cult of St. Martin«, 2014), mit dem Kult des heiligen Bischofs Gatianus von Tours sowie mit dem Offizium und der Messe zu Ehren der Dornenkrone (beide in der Reihe »Historiae«)1. Maureys Forschungen zum Thema des vorliegenden Bands sind Teil eines größeren Forschungsprojekts der Universität Tours zu den Saintes-Chapelles2, wobei er sich ausschließlich auf die liturgischen Quellen der Sainte-Chapelle in Paris, und hier vor allem auf spezifische Lesungen und Sequenzen zu den Festen der Dornenkrone konzentriert. Damit ist das Buch sicherlich als ergänzendes Werk zu Maureys Edition in der »Historiae«-Reihe zu werten. Auch wenn ausgewählte Sequenzen bereits von Rebecca Baltzer, Karen Gould und Alyce Jordan besprochen wurden3, das gesamte Sequenzkorpus der Feste der Dornenkrone wird nun erstmalig in diesem Band unter textlichen und musikwissenschaftlichen Aspekten untersucht. Wie bereits im Titel angekündigt, versteht Maurey die Sequenzen als Gedenktexte der Reliquien und ihre sprachlich-musikalischen Aspekte als Demonstration des französischen sakralen Königtums und folgt damit Meredith Cohens Interpretation des liturgischen Programms der Sainte-Chapelle4.

Das Buch ist zweiteilig und untersucht zwei unterschiedliche Feste zu Ehren der Dornenkrone: das Hauptfest vom 11. August (S. 29– 99) sowie das Fest des Empfangs der Reliquien vom 30. September (S. 101–153). Insgesamt acht Appendizes dokumentieren ausführlich die unterschiedlichen Quellen, Listen mit Sequenzen sowie die »Historia susceptionis coronae spinis« (mit englischer Übersetzung) und die überlieferten Lesungen des Reliquienfestes.

In der Einführung (S. 15–28) beginnt Maurey mit seiner programmatischen Definition des Reliquienbegriffs als »cornerstones of devotion, of community building, and of personal and institutional identity« und damit als »activating force«. Danach widmet er sich der Geschichte der Verehrung der Dornenkrone Christi und der zu Ehren der Reliquien errichteten Sainte-Chapelle im Frankreich Ludwigs des Heiligen. Er skizziert den Weg der Reliquien von Jerusalem über Konstantinopel (zwischen 958 und 985), wo sie in der eigens errichteten Pharos-Kirche aufbewahrt wurden und – nach einer zwischenzeitlichen Akquise durch Venezianer zu Beginn des 13. Jahrhunderts – über Venedig nach Frankreich gelangten. Von den Venezianern wurden die Reliquien über dominikanische Mittelsmänner im Jahr 1238 für König Ludwig IX. erworben. Nach einer weiteren Zwischenstation in Nordfrankreich, in Villeneuve-l’Archevesque, ließ der französische König in Anlehnung an die Santa Capella in Konstantinopel unweit der Pariser Kathedrale Notre-Dame und des Königspalastes eine neue Kapelle für die Reliquien der Dornenkrone errichten, die 1248 geweiht wurde.

Der erste Teil (S. 29–99) beginnt mit der Präsentation der später im Appendix Nr. 7 vollständig edierten und ins Englische übersetzten »Historia« der Translation der Dornenkrone bis nach Frankreich. Der Erzbischof von Sens Gautier Cornut verfasste den Text im Auftrag König Ludwigs bereits während der Wartezeit der Reliquien in Villeneuve-l’Archevesque, bevor er 1241 starb. Der Bericht endet mit der Beschreibung, wie Ludwig die Reliquien persönlich nach Paris begleitet (siehe Edition S. 209). Die älteste liturgische Quelle, die die Messe und das Offizium der Dornenkrone überliefert, ist Brüssel KBR ms. IV 472 (https://opac.kbr.be/LIBRARY/doc/SYRACUSE/17937927); sie entstand in der Zeit unmittelbar nach der Weihe der Sainte-Chapelle5. Maurey konzentriert sich auf die zehn Sequenzen, die nachweislich in Frankreich für das spezifische Fest der Dornenkrone (und die Oktav) in der Sainte-Chapelle komponiert wurden. Für die Texteditionen, die englischen Übersetzungen und die Melodieeditionen werden insgesamt zwölf Quellen berücksichtigt. Zwei Seiten der Sequenzen aus der Handchrift Bari 5 werden im Faksimile in ausgezeichneter Qualität abgebildet. Die Melodieeditionen sind ebenfalls sehr gut lesbar und übersichtlich in Paaren angeordnet. Für die Sequenz »Regis et pontificis« vergleicht Maurey zehn Quellen in synoptischer Form (S. 54–60).

Der zweite Teil (S. 101–159) befasst sich mit dem anderen Fest des Empfangs zusätzlicher Reliquien, das am 30. September begangen wurde. Hierzu verfasste Gérard de Saint-Quentin einen Zyklus lateinischer Lesungen, die der Autor im Appendix Nr. 8 ediert und ins Englische übersetzt hat (S. 210–223). Obwohl die Texte der Messe und einige Offiziengesänge kurz besprochen werden (S. 107–115), konzentriert sich Maurey wieder auf die Sequenzen. Insgesamt zehn Sequenzen in Reimform werden wie im vorigen Teil textlich ediert, ins Englische übersetzt und melodisch transkribiert.

In seinen »Conclusions« (S. 161–170) bekräftigt der Autor noch einmal die tragende Rolle der Reliquien, ihres Aufbewahrungsortes und der liturgischen Feiern für die Konsolidierung der Macht des französischen Königshauses und für die Etablierung von Paris als intellektuellem und geistlichem Zentrum Frankreichs, ebenbürtig Städten wie Jerusalem, Konstantinopel, Rom, Tours und Santiago de Compostela. Es waren unter anderem diese Reliquien, die den Weg bereiteten für die spätere Heiligsprechung König Ludwigs und die Verehrung seiner Reliquien in Saint-Denis und in der Pariser Sainte-Chapelle, wo sein Haupt aufbewahrt wurde.

Auf acht Appendizes in sehr übersichtlichem Layout, tabellarisch für die Quellen und in fortlaufendem Text für die Editionen und Übersetzungen, folgen eine Bibliografie und ein neunseitiger Index, insgesamt ein sehr gelungenes Werk mit viel neuerforschtem Material.

1 Yossi Maurey, Historia Sancti Gatiani, Episcopi Turonensis. Wissenschaftliche Abhandlungen, Lions Bay 2014 (Musicological Studies, LXV/23); ders., The Dominican Mass and Office for the Crown of Thorns, Lions Bay 2019 (Musicological Studies, LXV/29).
2 Im Rahmen des von der französischen Agence nationale de la recherche geförderten Projektes »Musique et musiciens dans les Saintes-Chapelles, XIIIe–XVIIIe siècles«.
3 Rebecca Baltzer, Notre-Dame and the Challenge of the Sainte-Chapelle in Thirteenth-Century Paris, in: Daniel J. DiCenso, Rebecca Maloy (Hg.), Chant, Liturgy, and the Inheritance of Rome, London 2017 (Henry Bradshaw Society Subsidia, 3), S. 489–523; Karen Gould, The Sequences De Sanctis Reliquiis as Sainte-Chapelle Inventories, in: Medieval Studies 43 (1981), S. 315–341; Alyce A. Jordan, Stained Glass and the Liturgy: Performing Sacral Kingship in Capetian France, in: Colum Hourihane (Hg.), Objects, Images, and the Word: Art in the Service of the Liturgy, Princeton 2003 (Index of Christian Art occasional papers, 6).
4 Meredith Cohen, The Sainte-Chapelle and the Construction of Sacral Monarchy: Royal Architecture in Thirteenth-Century Paris, Cambridge 2014 (French History, 30/4), S. 167.
5 Cecilia M. Gaposchkin (Hg.), Vexilla Regis Glorie: Liturgy and Relics at the Sainte-Chapelle in the Thirteenth Century, Paris 2021 (Sources d’histoire médiévale).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Kristin Hoefener, Rezension von/compte rendu de: Yossi Maurey, Liturgy and Sequences of the Sainte-Chapelle. Music, Relics, and Sacral Kingship in Thirteenth-Century France, Turnhout (Brepols) 2021, 252 p., 4 col. fig., 21 musical examples, 27 b/w tab. (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages [CELAMA], 35), ISBN 978-2-503-59105-6, EUR 80,00., in: Francia-Recensio 2022/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92121