Die Herstellung einer zuverlässigen kritischen Edition bedarf nicht nur umfassender Kenntnisse des Gegenstands, sondern auch Zeit; eine Aussicht, die nicht nur geeignet ist, potenzielle Geldgeber von Drittmittelprojekten zu beunruhigen, sondern auch etablierte Lehrstuhlinhaber vor Herausforderungen zu stellen vermag. Letzteres trifft auf die Edition von Matthias Thumser zu, deren lange Geschichte, wie sie der Herausgeber selbst im Vorwort beschreibt, mit einer ersten umfangreicheren Besprechung der Handschriften Mitte der 1990er-Jahre begann und über grundsätzliche Fragen zur Editionstechnik schließlich in eine vorläufige Online-Edition bei den MGH mündete1, deren krönender Abschluss nun die stattliche Print-Edition darstellt. Eine derart lange Bearbeitungszeit würde den naiven Betrachter oder potenziellen Nacheiferer editorischer Großprojekte vielleicht vor die Frage stellen, wie lohnenswert ein solches Unterfangen langfristig einzuschätzen ist.

Das Erscheinen der vorliegenden Edition reiht sich in eine Entwicklung der jüngeren Papsttums-Forschung ein – die der Herausgeber freilich über Jahrzehnte wesentlich mitgeprägt hat und noch immer tatkräftig prägt –, weniger wirkmächtige Päpste speziell des 13. Jahrhunderts neben ihren prominenten und vielbeforschten Amtskollegen intensiver zu untersuchen und einer Neubewertung ihres Wirkens den Weg zu bereiten. Die relativ zufällige Auffindung relevanter Textzeugen im Vatikanischen Archiv und die Feststellung ihres Stellenwerts zeigt plastisch und jenseits aller Stilisierung den »Spürsinn« eines profunden Kenners der Materie, der letztlich für das Gelingen wissenschaftlicher Entwicklung überhaupt vonnöten ist.

Der Gegenstand ist in diesem Fall eine Sammlung von Epistole et dictamina, die aufgrund ihrer Genese und der daraus resultierenden Überlieferungsformen »auf zwei ganz verschiedenen Ebenen zu betrachten […]« sei: zum einen als der Text-Bestand eines (heute verlorenen) originalen »Spezialregisters« (vgl. S. 29) Clemensʼ IV., zum anderen als Briefsammlung stilistischer Vorbilder, wie sie heute in 18 Textzeugen überliefert ist (S. 2). Als solche und mit dieser speziellen Überlieferungsgeschichte gewinnt die Sammlung für das Verständnis der Übergänge, Interferenzen und Adaptionen mittelalterlicher Papsturkunden untereinander, zu den päpstlichen Kanzleiregistern und Dekretalen-, kurialen und sonstigen Sammlungen herausragende Bedeutung. Zugleich ist sie geeignet, die aktuelle Forschung zur Ars dictaminis fruchtbar zu fördern. Mit Blick auf neuere Untersuchungen auf diesem Feld ließe sich editionstechnisch fragen, welche Anforderungen eine solche Edition zu erfüllen habe. Konkret hieße das: ediert Thumser hier eine Briefsammlung oder ein Papstregister?

Diesem Aspekt kann man sich über die dankenswert ausführliche Besprechung der Handschriften (S. 3–19) annähern, die mit einer genauen Beschreibung der Lagen und der Provenienzgeschichte dem Leser gute Orientierung bietet. Um den Kontext der Handschriften erkennbar zu machen – sehr nützlich! – erscheint es durchaus angemessen, nicht das jeweilige Incipit, sondern den gängigen Titel der übrigen in einem Codex befindlichen Werke anzugeben; er muss nicht unbedingt der wörtlichen Titelgebung in den Handschriften entsprechen. Sehr benutzerfreundlich ist zudem der Verweis auf vorhandene Digitalisate und Standard-Editionen dieser Texte (vgl. S. 9–11). Das gänzliche Fehlen einer wissenschaftlich-kritischen Edition (S. 20f.) der Epistole et dictamina ist nicht nur ein Argument für das Unternehmen insgesamt, sondern unterstreicht angesichts der unzureichenden bisherigen (Teil-)Editionen zugleich ihre Bedeutung, die auch durch den quellen- und textkritischen Befund klar wird: »Der Briefbestand des verlorenen Registers ist vollständig und weitgehend in seiner ursprünglichen Form erhalten« (S. 24). Das verlorene Papstregister, das wohl nach den Konzepten geschrieben wurde (S. 25), lasse sich bis auf das ursprüngliche Lagenschema hinunter rekonstruieren! Alle 18 Textzeugen gehen dabei auf einen Archetyp (α) zurück (S. 45f.), was auch den Lachmannschen Ansatz zur Rekonstruktion rechtfertigt (vgl. S. 49)2. 148 sehr persönliche Briefe an unterschiedliche Kardinäle beweisen, dass der Sammlung auch inhaltlich eine Sonderstellung zukommt. Empfänger und Datierungen sind durch die Übernahme der Rubriken aus dem Register sämtlich bekannt. Der Text weise zudem eine hohe Stabilität über die Zeit auf (S. 32). 16 Textzeugen enthalten die Normalfassung (S. 46). Das Stemma erscheint im Gegensatz zur Studie von 1995 modifiziert, wobei gelte: »Im Gegensatz zu anderen vielfach überlieferten Texten aus jener Zeit lassen sich die Zeugen der Epistole et dictamina relativ genau in den Gang der Überlieferungsgeschichte einpassen« (S. 48). Zudem wendet sich Thumser vom damals erwogenen Leithandschriftenprinzip ab (S. 48 mit Anm. 62). »Die Gefahr, dass hierbei eine fiktive Textfassung konstruiert würde, die in der Realität keine Entsprechung gehabt hätte, bestand sicher nicht.« Dennoch unterlässt der Herausgeber bewusst den Versuch, hinter »α« auf das Register-Original zurückzugehen (S. 48). Die Auswahl von neun Textzeugen wird ergänzt durch Empfänger- und Parallelüberlieferung (vor allem in Briefsammlungen des späten Mittelalters) sowie andere Register Clemensʼ IV. (S. 50). Im Apparatus criticus werden aufgrund vieler aus philologischer Unkenntnis der Abschreiber entstandener sprachlicher Fehler nur die relevanten Lesarten verzeichnet (S. 51). Zuletzt werden elf Briefe aus der Sammlung des Ps.-Marinus von Eboli nach dem Leithandschriftenprinzip (basierend auf Codex Arles 60) gegeben (vgl. S. 51f.). Dies ist keinesfalls als Inkonsequenz zu betrachten, sondern ausschließlich dem Überlieferungszustand und Bearbeitungsstand dieser Sammlung geschuldet (vgl. S. 40).

Die Gesamtedition stellt ein Musterbeispiel klassischer Editorik dar. Die Regesten, die in der Form »Clemens IV. an [X]: [Inhalt]« einerseits präzise und übersichtlich gestaltet sind und sich offenbar an den Rubriken und dem Aufbau des jeweiligen Eintrags orientieren (der allerdings sofort im Wortlaut folgt), sind syntaktisch und regesten-stilistisch gewöhnungsbedürftig, was aber letztlich eine Geschmacksfrage bleibt.

Das Quellen- und Literaturverzeichnis, das auch Webadressen online veröffentlichter Dissertationen enthält, eröffnet den kultur-, politik- und geistesgeschichtlichen Horizont, vor dem die Epistole et dictamina zu betrachten sind und den sie durch ihre Vielseitigkeit abbilden. Dies unterstreicht nochmals ihren außerordentlichen Stellenwert als Quelle für das spätmittelalterliche Papsttum und seine Urkundenproduktion3. Die Edition der einzelnen Einträge enthält neben den gängigen Informationen nützliche Hinweise auf die kollationierten Handschriften und fallweise auf die entsprechende Stelle bei Ps.-Marinus in Arles 60; weiters, wo nötig, auf Datierung und Empfängerüberlieferung. Die Zeilennummerierung pro Seite macht die Briefe genau referenzierbar. Eine Liste der häufigsten dispositiven Verben (S. 53) und deren für die Regesten standardisierte Übersetzung ist im Sinne der Einheitlichkeit und Transparenz positiv hervorzuheben. Zudem erleichtert eine eingehende Erläuterung des Apparatus criticus in der Einleitung dessen Benutzung. Dass sich Thumser für eine Mischung aus Similien- und Sachapparat entschieden hat, ist angesichts der eher überschaubaren Anzahl von Similien pro Brief im Sinne der Übersichtlichkeit nachvollziehbar. Auch hier lernt der Benutzer die langjährige Erfahrung des Herausgebers nicht nur mit der Briefsammlung selbst, sondern auch mit dem Edieren überhaupt (Ausgewogenheit von wissenschaftlicher Präzision und Benutzbarkeit) zu schätzen. Dies betrifft ebenso die umfangreichen Register zur Edition (S. 969–1065), die kaum Wünsche offenlassen, sowie den Sachapparat.

Kehrt man zur eingangs gestellten Frage zurück, lässt sich sagen: Das Warten hat sich gelohnt, und die Forschung besitzt mit dieser Edition ein zuverlässiges Instrument und den Zugang zu einem der sicherlich interessantesten und vielseitigsten Korpora spätmittelalterlicher kurialer Schriftlichkeit. Und zugleich einen erneuten, mustergültigen Beweis für den hohen Stellenwert historisch-kritischer Editionen für die Arbeit und das Fortkommen der mediävistischen Fächer schlechthin.

1 Matthias Thumser, Zur Überlieferungsgeschichte der Briefe Clemens’ IV. (1265–1268), in: Deutsches Archiv 51 (1995), S. 115–168; ders., Zurück zu Lachmann? Alte und neue Wege bei der Edition der »Epistole et dictamina Clementis pape quarti«, in: Antje Thumser (Bearb.), Matthias Thumser, Janusz Tandecki (Hg.), Editionswissenschaftliche Kolloquien 2003/2004. Historiographie – Briefe und Korrespondenzen – Editorische Methoden, Toruń 2005, S. 215–231; https://www.mgh.de/storage/app/media/uploaded-files/MGH_digital_Angebote_Briefe_Papst_Clemens_IV_Thumser_2015.pdf (11.11.2022).
2 Für ein solches Vorgehen bei Texten der Ars dictaminis tritt auch Fillipo Bognini, Zwischen Alberich von Montecassino und dem 12. Jahrhundert: Zwei Musterfälle, in: Florian Hartmann, Benoît Grévin (Hg.), Ars dictaminis. Handbuch der mittelalterlichen Briefstillehre, Stuttgart 2019 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 65), S. 338–347, hier S. 338 ein: »Das vorrangige Ziel ist, hierbei einen Text zu schaffen, der in seiner Form dem Willen des Autors am nächsten kommt.«
3 Im Quellenverzeichnis findet sich auch das einzige auffälligere Druckversehen einer ansonsten äußerst sauberen Redaktion: S. 83 unter den Autoren lies: »Schabel« statt »Schnabel«! Ebenso im Kurzzitat S. 109, ep. 11, Z. 21.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Aaron Schwarz, Rezension von/compte rendu de: Matthias Thumser (ed.), Epistole et dictamina Clementis pape quarti. Das Spezialregister Papst Clemensʼ IV. (1265–1268), Teil 1, 2 und 3, Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2022, XXII–1066 S. (Monumenta Germaniae Historica. Briefe des späteren Mittelalters, 4), ISBN 978-3-447-11748-7, EUR 268,00., in: Francia-Recensio 2022/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92132