Anlässlich des 30. Jubiläums des Mauerfalls und der Deutschen Einheit in den Jahren 2019–2020 ist verstärkt nach den Gründen dafür geforscht worden, warum sich die Ostdeutschen auch drei Jahrzehnte nach der »Wende« weiterhin als »Bürger zweiter Klasse« oder gar als »Migranten« im eigenen Land fühlen. Der Frage des individuellen und kollektiven Zugehörigkeitsgefühls widmen sich auch die Historikerinnen Agnès Arp und Élisa Goudin-Steinmann in ihrem äußerst anregenden Werk »La RDA après la RDA. Des Allemands de l’Est racontent«, das bereits 2020 erschienen ist.

Wie der Name der Monografie es suggeriert, geht es den beiden Forscherinnen darum, sich der DDR in ihrer individuell »erlebten Wirklichkeit« (»réalité ›vécue‹«, S. 18) zu nähern. Es wird bewusst auch das Nachwirken der DDR in der »Wendezeit« (S. 344) berücksichtigt, wobei »Wendezeit« hier als langwieriger und schwieriger Anpassungsprozess der Ostdeutschen an die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Funktionsweisen der Bundesrepublik verstanden wird, der je nach Anpassungsfähigkeit und -willen der Interviewpartner bis weit in die 1990er-Jahre hinein reichen konnte.

Um ganz bewusst auf das »Erlebnis« der Ostdeutschen einzugehen, setzen die beiden Verfasserinnen vorrangig auf die Auswertung von Gesprächen, die 2018 und 2019 mit 19 ostdeutschen mit Pseudonym versehenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt wurden. Die Gesprächspartner wurden zunächst gebeten, ihre Lebensgeschichte frei zu erzählen, danach wurden Fragen zu damaligen und heutigen Grundüberzeugungen und zu ihrem Empfinden bezüglich ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart, ihrem professionellen sowie privaten Werdegang gestellt (S. 343). Es ging ganz dezidiert darum, die Grenzen des Privaten (»seuil de l’intime«, S. 7) zu überschreiten, um sich dem historischen »Gegenstand DDR« allem voran von der Privatsphäre aus zu nähern.

Bei der Auswahl der Gesprächspartner wurde darauf Wert gelegt, insgesamt »durchschnittliche«, in der DDR sozialisierte Ostdeutsche (»citoyens ›ordinaires‹«, S. 18) aus den drei Generationen bzw. vier »Kohorten« (S. 8–11 und 344 f.) zu bevorzugen, das heißt jene, die bis auf eine Ausnahme weder Teil des Regimes noch der Bürgerbewegung waren. Somit verfolgen Arp und Goudin-Steinmann das Ziel, die Operabilität des von Alf Lüdtke geprägten Begriffs des »Eigensinns« empirisch zu überprüfen (vgl. insbesondere S. 302–306) und die Verschiedenartigkeit und Vielschichtigkeit des individuellen Verhältnisses zur DDR auszuleuchten1.

Die Darstellung gliedert sich in vier Teile, wobei sich besonders in den drei ersten Teilen lebensgeschichtliche Erzählung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und Analyse der Historikerinnen in ausgewogener Art und Weise abwechseln, sodass das Erzählte stets kritisch reflektiert wird. Der erste Teil ist der Erfahrung der »Entwertung(en)« (»Dévalorisation[s]«) all dessen gewidmet, was mit der eigenen DDR-Vergangenheit zu tun gehabt hatte. Die »Wende« erlebten die Ostdeutschen als umso einschneidender, als sie der vormals propagierten Orientierungen, Werte und Errungenschaften verlustig gingen, wodurch auch persönliche Erfolge plötzlich Makulatur wurden.

Aus den zumeist negativen Konsequenzen der Wendezeit auf den professionellen Werdegang, aber auch aus dem durchweg abwertenden, im Westen propagierten Bild der DDR ergab sich für viele Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner der Drang, sich ihre eigene Vergangenheit wieder anzueignen; diesen »Réappropriation[s]« widmet sich der zweiten Teil. Dabei erschienen das »Kollektiv«, die »Geborgenheit« aber auch der offiziell propagierte »Antifaschismus« der DDR besonders in der Rückschau und im Kontrast zur erlebten bundesrepublikanischen Wirklichkeit positiv.

Die Reduzierung der DDR auf den »Unrechtsstaat« und die »Repression« deckt sich nämlich keinesfalls mit der Erfahrung der Interviewpartner und lässt bei ihnen eine ostdeutsche »Trotzidentität« aufkommen, die schon Jens Reich diagnostiziert hatte und die den dritten Teil, »Aufwertung(en)« (»Révalorisation[s]«), umschreiben könnte2. Darin wird ausgeführt, wie sehr für einige Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner die DDR erst in der Rückschau als alternatives Modell (S. 198) zur heutigen Bundesrepublik, zum Kapitalismus und zur kulturellen Globalisierung hätte taugen können (S. 191–214). Die Vorzüge des Schulsystems, der Plattenbausiedlung oder des günstigen kulturellen Lebens erfuhren in Anbetracht der steigenden sozialen Segregation, der Privatisierung und Verarmung des Kulturangebots ex post eine Aufwertung.

Dass die Gesprächspartner dabei nicht in eine politische »Ostalgie« verfallen, lässt sich an der Tatsache ablesen, dass sich kein einziger Gesprächspartner die DDR zurückwünscht. Sehr wohl werden jedoch einige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nostalgisch in Bezug auf ihr persönliches Leben in der DDR, das ihnen im Gegensatz zur vollends »außergewöhnlichen« Wendezeit »normal« erschien, das ihnen ein Gefühl von Geborgenheit vermittelte und viel mehr Freiräume gewährte, als der westliche Diskurs getreu dem Totalitarismus-Paradigma gemeinhin wahrhaben will.

Im letzten, »Entteufelung?« (»Dédiabolisation?«) betitelten, stark historiografisch geprägten Teil sprechen sich Arp und Goudin-Steinmann in Anlehnung an Jay Rowell dafür aus, dass sich die Geschichtsschreibung von dem Totalitarismus-Paradigma lösen möge, das darauf abziele, die DDR mitsamt ihren ehemaligen Bürgerinnen und Bürgern abzuwerten. Nur so könne ein differenzierteres und der Lebenswirklichkeit entsprechendes Bild der DDR entworfen werden (S. 295–299 und 317–321)3. Abschließend plädieren Arp und Goudin-Steinmann anhand einer Analogie mit den postcolonial studies dafür, dass man die DDR nicht aus der Sicht der Bundesrepublik und der liberalen Demokratie bewerten, sondern sie aus ihrer eigenen Logik heraus begreifen solle, unabhängig auch von ihrem schlussendlichen Untergang (S. 322). Dies würde es erlauben, der Versuchung der Teleologie zu widerstehen und gleichzeitig auch »enttäuschte Sehnsüchte« (Deluermoz und Singaravélou) der Ostdeutschen in Betracht zu ziehen (S. 337–339), was der Geschichtsschreibung ganz neue Formen der DDR-Wirklichkeit zugänglich machen würde4.

Soll das Scheitern der DDR ausgespart bleiben, stellt sich jedoch die Frage, warum die Verfasserinnen der »DDR nach der DDR« ihre Aufmerksamkeit schenken. Vielleicht handelt es sich um ein abschließendes Forschungsdesiderat, was erklären würde, warum dieser Teil, den man eher in der Einleitung hätte erwarten können, am Ende des Werks angesiedelt ist.

Im Anhang befindet sich eine Chronologie, die einem interessierten französischen Publikum sicherlich dienlich ist, in der sich allerdings einige inhaltliche Fehler eingeschlichen haben, die bei einer Neuauflage berichtigt werden müssten, der Qualität des Werks jedoch keinen Abbruch tun.

Die originelle Herangehensweise erlaubt es Arp und Goudin-Steinmann, fernab von verklärenden oder verteufelnden Narrativen ein vielschichtiges und differenziertes Bild der DDR zu zeichnen, so wie sie Durchschnittsbürger erlebt haben, bzw. so wie sie sie in der von der persönlichen Erfahrung der »Wendezeit« geprägten Rückschau darstellen. Dass es dabei jedoch nicht zu einer bloßen Aneinanderreihung von Lebensgeschichten kommt, rührt daher, dass die Historikerinnen diese Erfahrungen stets kontextualisieren und mit historischen Arbeiten konfrontieren. Es handelt sich um ein überaus lesenswertes Werk, dessen gerade erschienene Übersetzung ins Deutsche äußerst begrüßenswert ist5.

1 Alf Lüdtke (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial‑anthropologische Studien, Göttingen 1991.
2 Jens Reich, Distanz, Enttäuschung, Hass, in: Der Spiegel 34 (1992).
4 Quentin Deluermoz, Pierre Singaravélou, Pour une histoire des possibles. Analyses contrefactuelles et futurs non advenus, Paris 2016.
5 Agnès Arp, Élisa Goudin-Steinmann, Die DDR nach der DDR. Ostdeutsche Lebenserzählungen, Gießen 2022. Die hier angeführten Titel der vier Teile entsprechen der Übersetzung von Claudia Steinitz.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Étienne Dubslaff, Rezension von/compte rendu de: Agnès Arp, Élisa Goudin-Steinmann, La RDA après la RDA. Des Allemands de l’Est racontent, Paris (Nouveau Monde Éditions) 2020, 400 p., ISBN 978-2-38094-134-0, EUR 19,90., in: Francia-Recensio 2022/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92284