Die Forschung zum Neoliberalismus hat in der letzten Zeit merklich an Fahrt aufgenommen. Einer derjenigen, die daran großen Anteil hatten, ist Thomas Biebricher, seit 2020 Professor für die Geschichte ökonomischer Governance an der Copenhagen Business School. In seinem neuen Buch konzentriert er sich auf die politische Dimension des Neoliberalismus, die er nicht als »bloßes Anhängsel einer ansonsten ausschließlich auf ökonomische Phänomene fokussierten Lehre« begreift, sondern als integralen »Bestandteil einer kollektiven Anstrengung, die neoliberale Problematik zu bewältigen«. Darunter versteht er die »Identifizierung und Sicherstellung der vielfältigen Bedingungen der Möglichkeit funktionierender Märkte“ (S. 51). Ziel seiner Studie sind demnach die Rekonstruktion, Analyse und Problematisierung der politischen Theorie des Neoliberalismus.
Seine Arbeit hat er in zwei große Teile untergliedert. Diesen Teilen vorgeschaltet ist eine knappe Einleitung, in der Biebricher die Verwendung des Begriffs «Neoliberalismus« verteidigt, ungeachtet eines in der öffentlichen Debatte häufig anzutreffenden verzerrenden oder polemischen Gebrauchs. Er hält ihn allemal für »vielversprechender als Alternativen wie z. B. Spätkapitalismus, Postfordismus oder ›fortgeschrittener Liberalismus‹« (S. 12 f.). Daran schließt ein kurzer Abschnitt an, in dem er den Begriff, seine Entstehungsgeschichte, das Feld der »zentrale(n) und politische(n) Gegner« (S. 32) sowie das »Narrativ des liberalen Niedergangs« (S. 36) als Impuls für einen neuartigen »Neoliberalismus« (Hervorheb. d. Autors) umreißt.
Im ersten, zentralen und mit 180 Seiten umfangreichsten Teil des Buchs widmet sich Biebricher den Ideen, Entwürfen und Argumenten neoliberaler Denker, allen voran denen der deutschen Ordoliberalen Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow sowie denen von Friedrich August Hayek, Milton Friedman und James Buchanan. Die Analyse konzentriert sich auf »vier zentrale Kategorien des neoliberalen politischen Denkens: Staat, Demokratie, Wissenschaft und Politik« (S. 9). Der Abschnitt zum Staat enthält neben erwartbaren Überlegungen zur Rolle des Staates als »robuster Schiedsrichter« (S. 55) auch eher überraschende Darlegungen Euckens oder Röpkes zu einem »starken Staat«, der die »Verbindungen zu gesellschaftlichen Gruppen und ihrer Interessenpolitik kappen« (S. 108) müsse. Der interessanteste Abschnitt ist nach Ansicht des Rezensenten der zur Demokratie: Der »gemeinsame Nenner aller neoliberalen Demokratietheorien«, so Biebricher, besteht nämlich in der Überzeugung, dass die Demokratie »ein mehr oder weniger schwerwiegendes Problem darstellt«, und zwar zum einen insofern, »als ihre Funktionsweise für weitere Komplikationen sorgt, was die ohnehin schwierige Konzeptionalisierung der angemessenen Rolle des Staates in seinem Verhältnis zu Märkten und der Gesellschaft insgesamt angeht«. Zum anderen und »noch grundsätzlicher hat Demokratie aus neoliberaler Sicht das Potential, Gesellschaften ins Chaos zu stürzen oder in gewaltige Ausbeutungsmaschinerien zu verwandeln, die im Endeffekt kaum noch etwas von dem Kollektivismus unterscheidet, den die Neoliberalen so vehement ablehnen« (S. 120). Die kritische Auseinandersetzung mit diesen Sichtweisen zählt zu den Glanzstücken der Studie.
Der zweite große Teil widmet sich unter der Überschrift »Die Disziplinierung Europas« der Welt des »real existierenden Neoliberalismus« (S. 9), oder, mit anderen Worten, der »Ordoliberalisierung Europas«: nicht nur habe »Wettbewerbsfähigkeit oberste Priorität als Ziel aller Reformen«, die Eurozone verfüge »darüber hinaus heute über eine Wettbewerbsordnung, die all ihre Mitgliedsländer in eine bestimmte, als wünschenswert angesehene Form der Konkurrenz zwingt, die zumindest bis zum Anbruch des Coronazäns in einer allgemeinen Politik der Austerität resultierte« (S. 10). Seine differenzierten Überlegungen zu den Krisen und Reformversuchen auf EU-Ebene geben Biebricher »ausreichend Grund zu der Annahme«, dass »ordoliberale Vorstellungen einen gewissen Einfluss auf das insbesondere von Deutschland orchestrierte Krisenmanagement und damit auch die jüngsten institutionellen Restrukturierungsmaßnahmen der EU hatten« (S. 301).
Das Buch, das in seinem Epilog unter anderem auch noch einige erhellende Bemerkungen zum Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Populismus bzw. »Autoritarismus« zu bieten hat, stellt eine ebenso erfrischende wie kritische und theoretisch reflektierte Auseinandersetzung mit einem Phänomen dar, das, so ein wichtiges Ergebnis, sicherlich nicht auf seine ökonomische Dimension begrenzt werden kann – und dessen Ende nicht absehbar ist.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Thomas Biebricher, Die politische Theorie des Neoliberalismus, Berlin (Suhrkamp) 2021, 345 S. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2326), ISBN 978-3-518-29926-5, EUR 22,00., in: Francia-Recensio 2022/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92287