Das Themenheft der »Revue Germanique Internationale« Nr. 28 ist einer der innovativsten Institutionen der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts gewidmet, der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW), die von ihrem Gründer Aby Warburg selbst als »Laboratorium« bezeichnet wurde, was hier titelgebend wieder aufgenommen worden ist. Anfang des Jahrhunderts als Privatbibliothek Warburgs in Hamburg entstanden, lässt sich eine zunehmende Institutionalisierung beobachten, zunächst parallel zur 1919 gegründeten Universität Hamburg, sodann ab 1933 als ins Exil nach London vertriebene Institution, wo sie als The Warburg Institute 1944 Teil der University of London wurde. Dabei ist die KBW nicht nur eine Spezialbibliothek mit einem besonderen Bestandsprofil, sondern entwickelte sich seit den 1920er-Jahren zu einem veritablen Forschungsinstitut mit reger Vortrags- und Publikationstätigkeit. Dementsprechend stellt sie nicht nur eine Sammlung von Büchern dar, sondern mehr noch einen Gelehrtenkreis (»Warburg-Kreis«), der sich um die Bibliothek gebildet hat, oder eine Arbeitsgemeinschaft, die in der Bibliothek ihren geistigen Mittelpunkt besitzt – wie programmatisch der Philosoph Ernst Cassirer formulierte.
Die Beiträge des vorliegenden Themenheftes spannen einen weiten Bogen von Warburgs frühen fragmentarischen Werken bis zum Wirken seiner Mitarbeiter im Londoner Exil. Freilich gerät die Bibliothek selbst, ihre Struktur und ihr innovatives Potenzial, kaum in das Blickfeld des vorliegenden Sammelbandes, vielmehr sind es eher die einzelnen Personen, die an der KBW wirkten und als Arbeitsgemeinschaft behandelt werden.
Ein einführendes Panorama bietet der Beitrag von Emily J. Levine (»L’autre Weimar: le cercle de Warburg, une ›école de Hambourg‹?«, p. 11–30), welcher den Gelehrtenkreis um Aby Warburg in seinem zeitgeschichtlichen Kontext im Hamburg des beginnenden 20. Jahrhunderts verortet. Der Aufsatz baut auf ein Buch der Autorin zum gleichen Thema auf1 und zeigt wie die Rede von einer »Hamburger Schule«, die gelegentlich verwendet wurde, sich nun im wissenschaftshistorischen Diskurs zunehmend verfestigt2. Die Hansestadt selbst gerät auf diese Weise in einer gleichsam kultur-geografischen Perspektive der Autorin zu einem »anderen Weimar«, im Sinne einer kulturellen Metropole während der Weimarer Republik.
Die Figur der Nymphe, oder besser »Ninfa fiorentina«, einer bewegten Frauengestalt in flatterndem Gewande, die in Warburgs frühen Florenz-Aufenthalten eine bedeutsame Rolle spielt, aber sich als »Pathosformel« letztlich durch sein ganzes Werk zieht, steht im Mittelpunkt des Aufsatzes von Céline Trautmann-Waller (»Warburg, Jolles et la nymphe florentine, de l’expérience partagée à l’anthropologie de l’art«, p. 31–49). Für die Autorin zeigt sich in diesem Motiv eine anthropologische Herangehensweise an die Kunst, die für Warburg charakteristisch ist. Warburgs Überlegungen zur Figur der Nymphe verdichten sich in einem fiktiven Briefwechsel mit seinem niederländischen Freund André Jolles, der im Anhang des vorliegenden Bandes erstmals in französischer Übersetzung publiziert wird.
Einen Vergleich der kunstwissenschaftlichen Methoden von Warburg und Erwin Panofsky unternimmt Audrey Rieber (»Le projet d’une métapsychologie de l’art. Panofsky à la Bibliothèque Warburg: 1915‒1933«, p. 51–67). Während das Problem des Ausdrucks und der Expressivität der Affekte bei Warburg zentral ist, er sich selbst auch als »Psychohistoriker« bezeichnete, subsummiert die Autorin Panofskys Ansatz unter dem Stichwort einer »Metapsychologie der Kunst«. Obgleich sich die methodischen Konzepte der beiden Gelehrten ausdifferenzieren lassen, bemerkt Rieber zurecht, dass die Differenzen zwischen beiden in der Forschung der letzten Jahre häufig unangemessen überbetont worden sind.
Muriel van Vliet rekurriert in ihrem Beitrag »Correspondance entre Warburg, Cassirer et Panofsky. Le problème de la survivance des symboles« (p. 69–86) auf den metaphorischen Terminus der »Correspondance«, um die Beziehungen der drei Gelehrten zu charakterisieren. Das Symbols erweist sich hierbei als die zentrale Problemstellung, welche die Arbeit dieser drei Gelehrten verbindet und in eine fruchtbare Konstellation bringt.
Giovanna Targia bietet einen Einblick in eine noch unveröffentlichte im Oxforder Nachlass befindliche Studie von Edgar Wind über eines der berühmtesten Kunstwerke der Renaissance, die sogenannte »Schule von Athen« Raffaels im päpstlichen Palast des Vatikans (»Détails et hypothèses: Edgar Wind, Aby Warburg et L’École d’Athènes de Raphaël«, p. 87–105) und man darf der Edition dieser Studie, welche die République des Lettres seit einiger Zeit erwartet, mit großem Interesse entgegensehen.
Stephan Grotz stellt in seinem Beitrag (»Trois warburgiens. Alfred Doren – Fritz Saxl – Edgar Wind«, p. 107–124) drei »Warburgianer« der ersten Stunde vor, die alle drei mit Würdigungen Warburgs hervorgetreten sind, entweder noch zu dessen Lebzeiten, wie im Falle seines Assistenten Fritz Saxl, oder unmittelbar nach Warburgs Tod im Jahre 1929, wie im Falle von Doren und Wind. Deren Aufsätze als Dokumente einer frühen Wirkungsgeschichte werden hierbei einer minutiösen Lektüre unterzogen. Der Aufsatz Winds über Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft aus dem Jahre 1931 ist zudem im Anhang des vorliegenden Bandes erstmals in französischer Übersetzung publiziert.
Zu den engsten Vertrauten Warburgs zählt Gertrud Bing, die zunächst als Assistentin an der Bibliothek wirkte und über lange Zeit deren Geschicke mitgestaltet hat. Mit ihr setzt sich der Beitrag von Carole Maigné unter dem Titel »Kollege Bing« (p. 125‑141) auseinander, wobei auch ein kürzlich publizierter Text aus dem Nachlass präsentiert wird3. Die Autorin sieht in Bing eine »Schlüsselfigur« für die KBW, deren Rolle gleichwohl noch immer unterbewertet sei.
Zwei Beiträge widmen sich dem Philosophiehistoriker Raymond Klibansky, der bereits in seiner Studienzeit Mitte der 1920er‑Jahre mit der Bibliothek Warburg in Kontakt gekommen ist. Dass Klibansky nicht nur ein Ideenhistoriker im herkömmlichen Sinne sei, sondern als ein »Ikonologe der Konzepte« (»iconologue des concepts«) zu verstehen sei, ist die Arbeitshypothese, die Maud Hagelstein in ihrem Beitrag »Migrations, circulation et hybridation des idées. L’Iconologie de Warburg à Klibansky« (p. 143‑158) vorträgt. In dieser Lesart ist es Klibanskys Leistung, die warburgische Methode einer kritischen Ikonologie für die Analyse von Begriffskonstruktionen fruchtbar zu machen und damit auch einer zu simplen Entgegensetzung von Bild und Wort entgegenzuwirken.
Zu den bekanntesten Büchern einer interdisziplinär-kulturwissenschaftlichen Forschung zählt die Studie »Saturn and Melancholy«, die 1964 als Gemeinschaftswerk von Klibansky, Panofsky und Saxl auf Englisch publiziert wurde. Die verwickelte Editionsgeschichte dieses Werkes mit bisher wenig bekannten Etappen zeichnet Philippe Despoix nach in seinem Beitrag »La Mélancolie et Saturne: un projet collectif au long cours de la bibliothèque Warburg« (p. 159–181).
Isabella Woldt behandelt die Relation von Bild und Wort anhand der im Lesesaal der KBW organisierten Ausstellungen (»Entre mot et image. Warburg et le livre illustré, Rembrandt et Tacite«, p. 183–197) und nimmt dabei ein Thema wieder auf, dem sich die Autorin bereits im Kommentar der Studienausgabe von Warburgs »Gesammelten Schriften«, vol. II.2, Berlin 2012, gewidmet hat.
Ein kurzweiliges Interview mit der langjährigen Archivarin des Warburg Institute in London beschließt den Reigen der Beiträge (»La Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg à la lumière de ses archives. Entretien avec Dorothea McEwan mené par Céline Trautmann-Waller le 2 août 2018«, p. 199–209).
Ergänzt wird das vorliegende Themenheft durch einige historische Quellentexte in französischer Übersetzung. Neben dem fiktiven Briefwechsel zwischen André Jolles und Aby Warburg über die »Ninfa Fiorentina« aus dem Jahre 1900, der auch Gegenstand des Beitrages von Céline Trautmann-Waller ist (cf. supra), werden zwei Nachrufe auf Warburg aus dem Jahre 1929 aus der Feder zweier enger Mitarbeiter von Audrey Rieber übersetzt, nämlich der Nekrolog von Erwin Panofsky, der im »Hamburger Fremdenblatt« erschienen ist und derjenige von Fritz Saxl in der »Frankfurter Zeitung«.
Den Abschluss dieser Quellenedition bildet der Aufsatz von Edgar Wind, der ursprünglich 1931 in der »Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft« publiziert wurde und hier erstmals in einer französischen Übersetzung von Audrey Rieber vorgelegt wird (»Le concept warburgien de science de la culture et sa signification pour l’esthétique«). Es ist eine der frühesten und tiefsinnigsten Auseinandersetzungen mit der Kulturwissenschaft überhaupt und eine der besten Einführungen in das Werk von Aby Warburg.
So ist ein Sammelband entstanden, der nicht nur einem frankofonen Lesepublikum wichtige Quellentexte und Studien vermittelt, sondern der internationalen Warburg-Forschung zahlreiche Anreize und Einsichten bietet.
Kritisch bleibt bei den französischen Übersetzungen anzumerken, dass mitunter auch die Werktitel bei den bibliografischen Nachweisen in den Fußnoten auf Französisch wiedergegeben werden. So wird beispielsweise Warburgs Studie über »Bildniskunst und florentinisches Bürgertum« zitiert als »L’art du portrait et la bourgeoisie florentine I, Leipzig, 1902« (cf. p. 233, Fn. 2, desgleichen in den folgenden Fußnoten). An anderer Stelle werden die »Vorträge der Bibliothek Warburg« zitiert als »Conférences de la bibliothèque Warburg« (cf. p. 108, Fn. 5) und damit für eine bibliografische Recherche unauffindbar.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Thomas Gilbhard, Rezension von/compte rendu de: Carole Maigné, Audrey Rieber, Céline Trautmann-Waller, La Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg comme laboratoire, Paris (CNRS Éditions) 2018, 260 p. (Revue Germanique Internationale, 28), ISBN 978-2-271-12231-5, EUR 30,00., in: Francia-Recensio 2022/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92303