Glaubten manche Kommentatoren bis vor Kurzem noch, mit der Alternative für Deutschland (AfD) gehe es steil bergab, belehrte das Ergebnis der Landtagswahl in Niedersachsen sie eines Besseren. Ob die Verdopplung der Stimmen gleich eine »Trendumkehr« bedeutet, bleibt zwar abzuwarten. Allerdings deutet auch der Ausgang der Wahlen in Schweden und Italien darauf hin, dass sich der Rechtspopulismus im Aufwind befindet. Vor diesem Hintergrund kommt das Buch des Dresdener Politikwissenschaftlers Kolja Möller, der durch verschiedene einschlägige Publikationen bestens ausgewiesen ist, gerade rechtzeitig. Möller hat Schlüsseltexte ausgewählt, die zwischen den frühen 1930er‑Jahren und 2021 entstanden sind. Und er hat sich sinnvollerweise dabei nicht auf den – aktuell sicherlich »gefährlicheren« – Rechtspopulismus konzentriert. Dass »das Volk gegen ›die da oben‹ oder die ›Eliten‹« in Stellung gebracht wird, ist schließlich keine Besonderheit des Rechtspopulismus, sondern gilt gleichermaßen für »(neo-)liberale, linke oder zentristische Populismen« (S. 7).

In seiner die Forschung souverän zusammenfassenden Einleitung weist Möller unter anderem darauf hin, dass »nicht das vereinfachende Sprechen oder ein gewisser Opportunismus im Hinblick auf vermutete Stimmungen in der Bevölkerung« (S. 10) die kennzeichnenden Merkmale populistischer Politik seien, vielmehr beanspruche der Populismus darüber hinaus, »den Volkswillen gegen die Eliten zu vertreten, sie perspektivisch zu entmachten oder wenigstens damit zu drohen« (S. 11). Was unter machtkritischen und demokratiepolitischen Gesichtspunkten zunächst positiv erscheinen mag, könne allerdings zugleich als »Einfallstor für identitäre Projekte und autoritäre Führung« dienen und die »Volksidentität gegen ›Andere‹ verhärtend« (S. 12) abgrenzen.

Den Reigen der Autoren eröffnet der italienische Kommunist Antonio Gramsci mit seinen Überlegungen zur Rolle der Massen in der Politik und dem Ringen unterschiedlicher sozialer Klassen um die »Hegemonie« ihrer Interessen und Weltanschauungen, gefolgt von – um nur einige zu nennen – den Sozialwissenschaftlern Leo Löwenthal und Franz Neumann, dem argentinischen Politikwissenschaftler Ernesto Laclau und dessen Thesen zum »popular-demokratischen« Kampf und zu der Frage, »ob populistische Politikformen eine gelingende soziale Transformation« (S. 30) bewerkstelligen könnten. Weitere Texte stammen von dem britischen Soziologen Stuart Hall, dem deutsch-britischen Soziologen und Politiker Ralf Dahrendorf und der Historikerin Karin Priester bis hin zu den in jüngster Zeit mit differenzierten Analysen in Erscheinung getretenen Politikwissenschaftlern Jan-Werner Müller, Philip Manow, Armin Schäfer und Michael Zürn.

Die Lektüre der Texte verdeutlicht, wie Möller zu Recht betont: »Der Populismus ist eine stets wiederkehrende Begleiterscheinung politischer Ordnungen« (S. 15). Vielleicht hätte ein Text zum Verhältnis von Populismus und digitalen Medien zusätzlich der Frage nachgehen können, inwiefern populistische Politik sich durch die neuen Möglichkeiten nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ verändert. Die Lektüre verdeutlicht überdies, dass viele der Beispiele und Beobachtungen, die in den »älteren« Texten präsentiert werden, von bestürzender Aktualität sind, etwa wenn Leo Löwenthal aus dem rhetorischen Arsenal des idealtypischen amerikanischen »Agitators« der 1930er‑Jahre zitiert oder Stuart Hall an die ideologischen Diskurse und Gegenüberstellungen des Thatcherismus zur Diskreditierung der Labour-Partei erinnert, nach dem Muster »Etatismus/Bürokratie/Sozialdemokratie/›schleichender Kollektivismus‹ als negativer und ›Besitzindividualismus‹/persönliche Initiative/›Thatcherismus‹/Freiheit« als positiver Pol (S. 159). Die Beiträge bieten nicht nur viel Material für die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Populismus, sie enthalten auch Anregungen zur Überprüfung der Begrifflichkeiten, etwa wenn Wilhelm Heitmeyer den Terminus »autoritärer Nationalradikalismus« als Alternative vorschlägt, weil der Begriff »Rechtspopulismus« seiner Ansicht nach durch eine »definitorische Unterbestimmtheit« (S. 300) gekennzeichnet ist.

Wer sich über die Entstehungsbedingungen, die Merkmale und die Erscheinungsformen populistischer Politik informieren möchte, wird diesen Band mit beträchtlichem Gewinn lesen. Nur auf kompakte und konkrete Vorschläge, wie mit dem Problem umzugehen sei, darf man nicht hoffen. Jedenfalls, so Möller am Ende seiner Einleitung, reiche es nicht aus, »mehr Geld« zu verteilen, die »Demokratie um zusätzliche Mitbestimmungsideen« zu ergänzen, »anders oder gar kritischer über Migration« zu sprechen oder sich »betont volkstümlich« zu geben (S. 44). Ein besseres und tieferes Verständnis des Populismus und seiner Mechanismen ermöglichen die ausgewählten Texte indes allemal.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Kolja Möller (Hg.), Populismus. Ein Reader, Berlin (Suhrkamp) 2022, 369 S. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2340), ISBN 978-3-518-29940-1, EUR 26,00., in: Francia-Recensio 2022/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92305