Die Musikgeschichte der DDR zählt zu den besonders fruchtbaren Forschungsfeldern der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Kein anderes Land unterhielt, bezogen auf die Einwohnerzahl, eine solche Dichte an Musikinstitutionen wie Orchestern und Opernhäusern. Für die Erforschung des vielfältigen DDR-Musiklebens weckt Philippe Oliviers Studie in doppelter Hinsicht Erwartungen: Erstens liegt hier die erste wissenschaftliche Monografie zur DDR-Musikgeschichte in französischer Sprache vor und leistet somit einen substanziellen thematischen Übersetzungsbeitrag. Zweitens verharrt Olivier in keiner ostdeutschen Binnenschau, sondern bezieht mit der Sowjetunion und Frankreich zwei wichtige ideologische wie musikpraktische Bezugsländer des sozialistischen deutschen Staats mit ein.
Oliviers Buch basiert auf einer zeithistorischen Straßburger Dissertation. Als Musikjournalist, -publizist und Kulturmanager ist der Autor indes mit dem ostdeutschen Musikleben nicht nur aus der Archivperspektive vertraut, sondern auch aus DDR-Aufenthalten in den 1970er- und 1980er-Jahren. Seine Studie bietet für die »sozialen Praktiken« (S. 11) »klassischer« Musik in der DDR eine Kombination aus einem synthetischen Panorama inklusive mehrerer Zeittafeln, einer archivgestützten Fallstudie zum Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR (VKM)1 sowie Akteursperspektiven aus Kulturpolitik, Musikmanagement und künstlerischer Praxis. Letztere basieren meist auf selbst geführten, teils anonymisierten Zeitzeugeninterviews. Diese breite, zugleich aber eklektische und teils subjektive Quellenbasis setzt Olivier in eine thematisch gegliederte Darstellung um.
Der erste Teil des Buches schlägt einen weiten Bogen über die Organisation des DDR-Musiklebens – von den ideologischen Leitlinien und Musikinstitutionen über den Musikerberuf und die musikalische Produktion bis zum jüdischen Musikleben, Verlagswesen, Instrumentenbau und der Systemkonkurrenz mit der Bundesrepublik. Bei dieser Tour d’Horizon werden sowohl die Vielfalt des DDR-Musiklebens wie die Spannungsfelder zwischen ideologischen Lenkungsversuchen, der gesellschaftlichen Verankerung der Musik, professionellen Künstlerinteressen und materiellen Zwängen deutlich. Zugleich reißt Olivier viele dieser Themen, die mangels Zwischenfazits und Übergängen ziemlich isoliert bleiben, nur an. Behauptungen wie Selbstmordversuche von DDR-Musikprofessoren nach der Wiedervereinigung (S. 19) oder die doppelte Geheimdiensttätigkeit des Musikwissenschaftlers Harry Goldschmidt (S. 87) bleiben ohne stichhaltige Belege, wie auch ganze Textabschnitte ohne Nachweise auskommen.
Oliviers stellenweise breiter Pinsel und lockere Begriffswahl sind nicht frei von Selbstwidersprüchen, etwa wenn das zurecht betonte staatliche Interesse an Deviseneinnahmen bei Gastspielen im »kapitalistischen« Ausland ohne weitere Erklärung zum »entschlossenen ideologischen Kampf« im Zeichen von Dresdner »Freischütz«-Aufführungen in Japan 1981 mutiert (S. 195). Zudem birgt die Darstellung Fehler: Soll das Foto auf S. 99 die angebliche SED-Mitgliedschaft des Baritons Siegfried Lorenz (*1945) belegen, erweist es sich als Porträt des gleichnamigen, deutlich älteren Politbüromitglieds (*1930)2. Damit wird der wichtige Umstand, dass sich gerade die prominenten DDR-Musiker und -Musikerinnen einem solchen staatlichen Zugriff meist erfolgreich entzogen, auf falscher Basis ins Gegenteil verkehrt. Weiterhin lässt die Ost-Berliner Zentral- und Funktionärsperspektive mit einigen Ausblicken auf Dresden und Leipzig das außerordentlich dichte Musikleben in der Provinz außen vor, von isolierten Schlaglichtern wie einem Absatz zu Meiningen anhand eines Artikels aus dem »Neuen Deutschland« (S. 182) abgesehen.
Mit dem Einbezug der Sowjetunion bietet Olivier im kompakten zweiten Teil neben der ideologischen Orientierung und Abhängigkeit der DDR-Kulturpolitik von der großen Schutzmacht Einblicke in die ambivalente Prokofjew- und Schostakowitsch-Rezeption. Interesse verdienen auch die Passagen zur sowjetisch-ostdeutschen Abgrenzung von der Bundesrepublik im Zeichen Beethovens, zu den sozialistischen Künstleragenturen sowie zum Stellenwert ethnischer Minderheiten im Musikleben, im Falle der DDR der sorbischen Gemeinschaft.
Die intellektuell-historische Affinität der DDR-Kulturpolitik zur revolutionären Tradition Frankreichs und den Austausch zwischen ostdeutschen Sozialisten und französischen Kommunisten hat die deutsch-französische Transferforschung bereits vielfältig thematisiert3. Mit den Komponisten Georg Katzer und Paul-Heinz Dittrich sowie der Opernregisseurin Ruth Berghaus, deren progressive Ansätze zum »Regietheater« nicht nur mit DDR-Ästhetiken kollidierten, sondern auch einem prononciert konservativen französischen Publikumsgeschmack entgegenstanden, kann Olivier dieses Panorama im dritten Teil ergänzen. Die für den Autor ungeklärten Fragen zum Frankreichgastspiel der Staatskapelle Dresden 1978 (S. 299) haben indes einen simplen Grund: Die Tournee gab es nicht4. Neben der starken musikalischen Präsenz der DDR in Frankreich, gerade in den kommunistisch regierten Pariser Vororten, nimmt der dritte Teil auch die bislang weit weniger beleuchteten (Nicht‑)Auftritte französischer Musiker in der DDR in den Blick. Während DDR-Besuche der Komponisten Olivier Messiaen und Pierre Boulez nicht zustande kamen, machen die Gastspiele der Pianistin Hélène Boschi den ideologisch-utopischen Überschuss des »real existierenden Sozialismus« aus linker westlicher Perspektive deutlich.
Das Fazit stellt als Ausblick vom Zusammenbruch der DDR bis in die Gegenwart zwei Tendenzen einander gegenüber: Auf der einen Seite steht die Kontinuität eines trotz Abwicklungen und Auflösungen weiterhin reichhaltigen Musiklebens in den »Neuen Bundesländern«, für das der Rezensent die Einschätzung des Autors einer »Nivellierung nach unten« (S. 354) indes nicht teilt. Auf der anderen Seite ging trotz signifikanter Ausnahmen die insgesamt kurzlebige kompositorische Produktion der DDR nach 1990 mit einer wenig nachhaltigen Publikumsentwicklung und den Karriereschwierigkeiten zahlreicher Interpreten auf dem kapitalistischen Musikmarkt einher.
In der Verknüpfung von DDR, Sowjetunion und Frankreich bietet Oliviers Buch einige aufschlussreiche Versatzstücke, die jedoch kein kohärentes Gesamtbild liefern und sich immer wieder in Abschweifungen und Anekdoten verlieren. Für eine Synthese steht die breite thematische Abdeckung im Spannungsverhältnis zu exemplarischen, aber teils oberflächlichen und ungenauen Schlaglichtern mit wenigen analytischen Akzenten. Zudem ist der deutsch- und englischsprachige Forschungsstand zur DDR-Musikgeschichte weitaus »konsistenter« (S. 19), als im Buch behauptet und bibliografisch dokumentiert. Gerd Dietrichs monumentale »Kulturgeschichte der DDR« fehlt ebenso wie mehrere einschlägige Spezialstudien5. Auf Quellenebene stößt die Aussagekraft dort an Grenzen, wo Olivier kontroverse oder quellenkritisch bedenkliche Aussagen seiner teils anonymisierten Interviewpartner nicht empirisch-archivalisch absichert. Das impressionistische Unterkapitel zur Staatssicherheit verzichtet auf die einschlägigen und der Forschung zugänglichen Quellenbestände des MfS ganz (vgl. S. 51). Andere Fragen ließen sich ebenfalls archivalisch substanzieller beantworten.
Als Einstiegs- und Referenzwerk zum DDR-Musikleben für französischsprachige Leserinnen und Leser ist Oliviers Studie kaum zu empfehlen. Die zukünftige DDR-Musikgeschichtsschreibung kann hier angerissene Untersuchungsfälle – gerade im Rahmen einer transnationalen DDR-Geschichte – vertiefen und konsolidieren.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Friedemann Pestel, Rezension von/compte rendu de: Philippe Olivier, La vie musicale en République démocratique allemande. Comparaison avec l’USSR et la France (1949–1990), Genève (Librairie Droz) 2022, 424 S. (Histoire des Idées et Critique Littéraire, 518), ISBN 978-2-600-06274-9, EUR 49,00., in: Francia-Recensio 2022/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92306