Nachdem Stéphanie Roza, politische Philosophin im französischen Forschungsverbund CNRS, vor zwei Jahren mit einer vehementen kritischen Analyse linker Abkehr vom Rationalismus der Aufklärung hervorgetreten ist, folgt in ihrem aktuellen Buch nun gewissermaßen die Inversion: Es arbeitet die tiefgehenden Prägungen der radikalen, sozialistischen und anarchistischen Denker und Bewegungen der Moderne durch den Geist und die Werte der Aufklärung sowie der eng mit ihr verbundenen Französischen Revolution heraus, ohne welche die Linke in der Tat nicht begriffen werden kann. Zugleich konturiert sie damit erneut die Problematik der gegenwärtigen Abkehr beträchtlicher Teile des linken politischen Spektrums vom Erbe der Aufklärung als bedrohliche »divorce avec le fonds commun et la démarche de tous les grands mouvements émancipateurs de l’époque moderne« (S. 13).
Selbstverständlich weiß Roza um die Grenzen, die sowohl von der Aufklärung als auch in der Französischen Revolution dem proklamierten Universalismus ihrer Werte in der gesellschaftspolitischen Realität gezogen wurden: Das stilbildende Maß war der weiße bürgerliche Mann, unterbürgerlichen sozialen Gruppen blieb die volle Emanzipation trotz aller Menschen- und Bürgerrechtserklärungen ebenso noch für lange Zeit verwehrt wie Frauen und nicht-weißen Menschen. Zeigen will Roza demgegenüber, dass nicht die Konzepte der Aufklärung und die Werte der Revolution selbst daran schuld waren, sondern mit ihnen erst die Grundlage dafür geschaffen wurde, um die Ausweitung auf alle Menschen fordern und schließlich auch durchsetzen zu können. Dies versucht sie in sechs Kapiteln über verschiedene Phasen der Entwicklung der radikalen politischen Linken von der Französischen Revolution bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts aufzuzeigen, bevor in einem Epilog die »Dialektik der Aufklärung« von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als zentrales Werk für den »Bruch von 1944«, für den Eintritt des Irrationalismus in die Kultur der politischen Linken gedeutet wird.
Am Anfang steht die Französische Revolution, in der nicht nur die Grundlagen der modernen bürgerlichen Gesellschaft gelegt wurden, sondern »à gauche de la Déclaration des droits de l’homme« auch alle darüber hinausweisenden Versuche ihren Ausgang genommen haben, die Emanzipation der unterbürgerlichen Schichten, der Frauen und der versklavten und entrechteten Menschen auf die politische Agenda zu rücken. Schlüssig wird hier am Beispiel der Anhänger von »Gracchus« Babeuf und von Mary Wollstonecraft sowie der von Touissant Louverture angeführten Revolution der schwarzen Sklaven in der französischen Kolonie Santa Domingo gezeigt, wie sich die beginnenden sozialistischen, feministischen und antirassistischen/antikolonialen Bewegungen und Protagonisten der Zeit nicht gegen Aufklärung und Revolution gewendet, sondern umgekehrt unter Berufung auf die Vernunft und die universellen Menschenrechte deren Ausweitung propagiert haben.
Dieses Argumentationsmuster wird in den folgenden Kapiteln fortgeführt, wobei die Eindeutigkeit der Verbindung des linken politischen Denkens mit Aufklärung und Revolution zwar brüchiger wird, insgesamt aber doch, wie Roza zeigen kann, erhalten geblieben ist. Dies bezieht sich zuerst auf die proletarischen, frühsozialistischen und frühkommunistischen Tendenzen im Frankreich der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es folgt ein Kapitel über die deutschen »fils de l’Aufklärung« im Vormärz, von den Jakobinern des »jungen Deutschland« über die philosophischen Junghegelianer bis zu Karl Marx und Friedrich Engels, bevor der Anarchismus insbesondere bei Pierre-Joseph Proudhon, Michail Bakunin und Pjotr A. Kropotkin, die Diskussionen in der sozialistischen Arbeiterbewegung über Friedrich Nietzsche und die Aufklärung sowie das Verhältnis von Rationalismus, Irrationalismus, Existentialismus und Marxismus angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts bei Georg Lukács, Jean-Paul Sartre und Cyril L. R. James in den Blick genommen werden.
Der Durchgang durch das radikale politische Denken der Moderne insbesondere in Frankreich und – mit der üblichen Begrenzung auf übersetzte Werke – in Deutschland schließt mit Adorno und Horkheimer, deren Werk als Beginn einer fundamentalen Ablehnung von Aufklärung und Vernunft innerhalb der politischen Linken ausgemacht wird.
Die Darlegungen sind durchgehend sachkundig und informativ, die These von der prägenden Kraft des aufklärerisch-revolutionären Denkens für die Entwicklung der politischen Linken wird insgesamt überzeugend begründet. Der systematische Einbezug der Französischen Revolution eröffnet zugleich manche neuen oder erstaunlichen Einblicke, so wenn die linkshegelianischen Diskussionen unter dieser Perspektive anders konturiert erscheinen als in den meisten Abhandlungen über Idealismus und Materialismus. Oder wenn überzeugend herausgearbeitet wird, wie Sartres ursprünglich stark von Martin Heidegger geprägter Existentialismus nicht primär aus philosophischen Erwägungen, sondern vor allem unter dem Einfluss von intensiven Studien über die Französische Revolution eine marxistische Ausrichtung gewonnen hat.
Nicht zuletzt ist auch die Fähigkeit von Rozas Ansatz zu nennen, nichtmarxistische, teilweise auch von Nietzsche inspirierte Strömungen in die Tradition der radikalen Linken zu integrieren, während die Frauenbewegung weitgehend aus dem Fokus gerät. Darüber hinaus leiden die Ausführungen unter einem etwas oberlehrerinnenhaften Duktus, dessen Bewertungsmaßstab allein die positive Fundierung in den Traditionen der Aufklärung und der Französischen Revolution ist. Und damit sind zugleich auch allgemeinere konzeptionelle Probleme verbunden, die insbesondere bei der Behandlung der Entwicklungen des 20. Jahrhunderts immer deutlicher hervortreten.
Insbesondere scheint Roza die doch genuin dialektische Idee fremd zu sein, dass auch die Aufklärung und die auf ihr fußende revolutionäre Tradition nicht nur gesellschaftspolitisch über ihre anfangs selbst gezogenen Grenzen hinauszutreiben wären, sondern eigene innere Widersprüche entfalten könnten, durch die ihre emanzipatorischen Ziele konterkariert werden. Indirekt spiegelt sich der Verzicht auf eine grundlegende Selbstkritik der radikalen Linken im Buch darin wider, dass die Entwicklung von Linksradikalismus, Bolschewismus und Stalinismus im 20. Jahrhundert ausgeklammert bleibt. Und zweifellos kann man durchaus berechtigte Kritik an der »Dialektik der Aufklärung« von Adorno und Horkheimer üben. Doch Rozas Vorwurf, deren eher tastende Versuche, die Ursachen für die sich auftuenden Abgründe der aufgeklärten Moderne auch im Entwurf selbst zu suchen, würden den Eintritt eines antiaufklärerischen Irrationalismus in die politische Kultur der Linken markieren, greift zweifellos zu kurz. Ergiebiger wäre es demgegenüber gewesen, den sich wandelnden, die Probleme der modernen Gesellschaftsentwicklung selbst reflektierenden und trotzdem in vieler Hinsicht weiterhin durch Aufklärung und revolutionäre Tradition inspirierten linken Ideen und Bewegungen des 20. Jahrhunderts nachzuspüren, ohne sie vorschnell als Gegenaufklärung zu begreifen – wobei nicht zuletzt viele produktive Ansätze der Kritischen Theorie wiederzufinden wären.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Wolfgang Kruse, Rezension von/compte rendu de: Stéphanie Roza, Lumières de la gauche, Paris (Éditions de la Sorbonne) 2022, 300 p. (La philosophie à l’œuvre), ISBN 979-10-351-0668-3, EUR 22,00., in: Francia-Recensio 2022/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92308