In der breiten Öffentlichkeit fördern Jubiläen die Erinnerung an wichtige historische Ereignisse. Dazu zählt bestimmt die Inflation von 1923 in Deutschland. Noch größere Aufmerksamkeit bekommt dieser Wendepunkt der deutschen Geschichte durch die aktuell rasch gestiegene Inflation und die Erwartung, dass sie nicht so schnell zurückgehen werde. Volker Ullrich formuliert aus diesem Grund im Vorwort seines Buches ausdrücklich die Intention, die Unterschiede zwischen der Hyperinflation 1923 und der Gegenwart in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht zu verdeutlichen (S. 13).

Er stellt in neun Kapiteln die zentralen Entwicklungen des Jahres 1923 vor: von der Ruhrbesetzung über die verschiedenen Putschversuche linker und rechter Parteien und Bewegungen bis hin zur Währungsreform und deren Stabilisierung bis 1924. In dieser von Hyperinflation und Gewalt dominierten Zeitspanne erklärt Ullrich die Politik der Reichsregierungen und ihrer Gegner, die die Republik zugunsten einer diktatorischen Regierungsform beseitigen oder einen eigenen Staat im Rheinland und der Rheinpfalz gründen wollten. Er wählt diese thematische Konzentration, um die in der Geschichtsforschung entwickelten zwei Positionen zu verbinden: Er will sowohl »das Ausmaß der Gefährdungen als auch die Chance einer Stabilisierung« (S. 13) der Republik deutlich machen.

Den »rote[n] Faden« bietet die rasante Entwicklung der Geldentwertung von der im Ersten Weltkrieg entstandenen Inflation bis zur Hyperinflation, die mit der französischen Ankündigung der Ruhrbesetzung im Herbst 1922 begann und mit dem Abbruch des passiven Widerstands im Ruhrgebiet im August 1923 noch nicht ihren Zenit erreicht hatte (Kap. I und II). Die täglich immer wertloser werdende Mark konnte nicht mehr als verlässliches Zahlungsmittel verwendet werden, aber in der Zeit bis zur Ausgabe der neuen Währung am 15. November bestand die große Gefahr, dass die Republik völlig auseinanderfallen würde.

Ullrich erklärt diese Krise auf drei Ebenen. Erstens: Die Reichsregierung mit Kanzler Stresemann (ab August) besaß keine parlamentarische Mehrheit und regierte mit Notverordnungen. Den passiven Widerstand gegen die Ruhrbesetzung begleiteten zweitens die Medien mit einer intensiven nationalistischen Propaganda gegen den »Erbfeind« Frankreich, wie Zitate aus der überregionalen Presse belegen. Ullrich beachtet hier nicht, wie die Reichsregierungen mit großem Elan diese Kampagnen auch selbst intensivierten. Der Abbruch des passiven Widerstands war unter diesen Umständen schwer vermittelbar, aber notwendig, weil die Reichsregierung die von Frankreich ausgewiesenen Verwaltungsmitarbeiter, Polizisten und Bahnangestellte entlohnen musste. Die Unternehmen der Grundstoffindustrie im Ruhrgebiet führten nur noch Ausbesserungsarbeiten durch. Die Reichsregierung finanzierte mit neuen Schulden auch diese Lohn- und Gehaltszahlungen, sodass die Hyperinflation rasant stieg. Parallel dazu lief drittens der tägliche Überlebenskampf der Menschen, ihre Suche nach bezahlbaren Lebensmitteln. Dieser führte auch zu einer »fundamentalen Entwertung bisher gültiger Normen und Werte« (S. 87), verstärkt durch die offene Zurschaustellung des Reichtums der »Schieber« und »Raffkes« in den Großstädten (S. 95).

Die »Verelendung« der großen Mehrheit der Bevölkerung und die Ohnmacht der Reichsregierung gegen die Besatzungsmacht Frankreich sieht Ullrich als Ursachen an, warum die Verbände der Schwerindustrie und der Landwirtschaft, die teilweise personell mit ihnen verbundene DNVP und Teile der Reichswehr mit einer Präsidialdiktatur des Chefs der Heeresleitung, Hans von Seeckt, die Krise beenden wollten (S. 176–180). Völlig konträr dazu entwickelte sich in Sachsen eine andere Lösung. Im IV. Kapitel »Deutscher Oktober« erklärt der Autor detailliert, wie die sächsische Koalitionsregierung von SPD und KPD in der Reichswehr die größte Gefahr für die Republik erkannte, während umgekehrt die Reichsregierung diese Koalition als Instrument zur Vorbereitung eines kommunistischen Aufstands bewertete. Deshalb entsandte sie die Reichswehr nach Sachsen, um anscheinend die Ordnung wiederherzustellen (S. 153–165). Eine verfassungsgemäß entstandene Landesregierung wurde militärisch zu einem Politikwechsel gezwungen.

In Bayern bestärkte das Ende des passiven Widerstands die schon vorher aktiven militärischen und politischen Gruppierungen in ihrem Glauben, die scheinbar ohnmächtige Reichsregierung stürzen zu können. »In diesem Verlauf bildete sich an der Spitze Bayerns ein Triumvirat heraus, das faktisch die Macht auf sich vereinigte« (S. 190). Neben der Landesregierung gehörten dazu die Leiter der bayerischen Reichswehr und der Polizei. Als die zu dieser Zeit noch kleine NSDAP unter Führung Adolf Hitlers am 8. und 9. November diese drei Organisationen für ihren Putsch instrumentalisieren wollte, lehnten deren Leiter ihn schließlich ab und die Landespolizei beendete den Putschversuch mit Gewalt. Ullrich resümiert seine fesselnde Reportage mit dem Satz: Damit war »die Umsturzgefahr von rechts gebannt« (S. 215).

Anschließend erläutert er die Details der Währungsreform. Die Mark konnte am 15. November im Verhältnis 1 Billion zu 1 Rentenmark umgetauscht werden. Als entscheidend für die Akzeptanz der neuen temporären Währung sieht er den Vertrauensvorschuss der Bevölkerung an, gefördert durch die Erfahrung, dass sie wieder Lebensmittel für ihr Geld bekommen konnte (S. 249f.). Danach wendet Ullrich sich wieder der Innenpolitik zu. Die zweite Regierung Stresemann wurde durch ein Misstrauensvotum von DNVP, KPD und SPD gestürzt, aber schnell durch eine neue Minderheitsregierung von Zentrum, DDP, DVP und BVP ersetzt. Kanzler Wilhelm Marx vom Zentrum führte sie und erhielt vom Reichstag eine große Mehrheit für ein neues Ermächtigungsgesetz (S. 266f.). Damit konnten einschneidende Gesetze zur Stabilisierung der Währung auf den Weg gebracht werden: Personalabbau, Steuererhöhungen, geringere Zuweisungen an die Länder, keine Kreditaufnahme sowie faktisch die Abschaffung des Achtstundentages (S. 267–269). Zu den Verlierern der Inflation gehörten Sparer und alle, die von Kapitaleinkünften lebten. Zu den Gewinnern zählten Besitzer von Sachanlagen.

Das vorletzte Kapitel widmet Ullrich dem kulturellen Leben in Berlin und dem zukunftsweisenden innovativen Projekt des Bauhauses in Weimar. Die Hauptstadt war das Zentrum von Film, Kabarett, Theater und ihren Protagonisten. Ursächlich für diese Blüte sieht der Autor den Bedarf vieler Menschen an einer Unterhaltung, die von dem inflationsgeprägten Alltag ablenkte (S. 284f.) Das Bauhaus schuf mit seiner Kooperation von internationalen Künstlern und Handwerkern ein Modell, das schon im Herbst 1923 mit dem Musterhaus ein erstes Ergebnis für modernes Bauen und Wohnen vorwies.

Das Schlusskapitel des Buches über die Jahre ab 1924 umfasst zwei Teile. Im ersten steht der von Finanzexperten im Auftrag der Reparationskommission erstellte Dawes-Plan im Mittelpunkt, der durch die ehemaligen Alliierten und das Deutsche Reich auf der Londoner Konferenz im August weitgehend akzeptiert wurde. Frankreich und Deutschland sahen, mit kräftiger Unterstützung der USA, in der Regelung der Reparationen eine Basis für die dringende wirtschaftliche Belebung ihrer Volkswirtschaften, während nordamerikanische Banken diesen Wirtschaftsaufschwung mit ihren Investitionen stärken wollten, weil sie neue Kapitalanlagen suchten. Die Republik sollte zur Stabilisierung ihrer Währung und Wirtschaft für die nächsten Jahre weniger als die bisher geltenden Reparationen bezahlen und die französische Regierung die Ruhrbesetzung 1925 beenden. Die Reichsregierung sicherte im Gegenzug zu, die Führung der Reichsbank und der Reichsbahn abzugeben und diese faktisch unter internationale Kontrolle zu stellen. Der Reichstag musste für die neue Reichsbahn AG die Verfassung mit Zweidrittelmehrheit ändern. Ullrich schildert die dramatischen Verhandlungen zwischen der Regierungskoalition und der für die Verabschiedung zusätzlich nötigen Stimmen der DNVP (S. 342–344). Die Kreditwürdigkeit der Republik war wiederhergestellt, konstatiert Ullrich zum Schluss. Im zweiten Teil blickt er kurz auf die Ursachen für das Ende der Republik, das durch eine »Verbindung von Legitimitätsverlust der demokratischen Institutionen und Parteien« und der durch die Weltwirtschaftskrise »erschöpften seelische(n) Widerstandskraft vieler Menschen« (S. 351) entstanden sei.

Ullrich schreibt für einen politisch-historisch interessierten Leserkreis. Er wählt die Entwicklungen aus, die das Ende der Republik und den Beginn einer Diktatur im Herbst 1923 fast zwangsläufig erscheinen ließen. Aber er zeigt auch, wie knapp vor dem Abgrund Wege gefunden wurden, das Land zu stabilisieren. Er rezipiert ausführlich die umfangreichen, auch eigenen Forschungen zur Geschichte der Republik, ohne neue Forschungsakzente zu setzen. Seine Methode, häufig aktuelle Zeitungsberichte und Memoiren von Zeitzeugen zu zitieren, liefert meistens keine neuen Perspektiven auf das jeweilige Geschehen, sondern bekräftigt die historischen Abläufe. Mit den intensiven situativen Analysen und Interpretationen erhöht er die Spannung für die vielen dramatischen Ereignisse. Diese stilistischen Mittel machen die Lektüre zum Genuss. Ausführliche Anmerkungen, ein Literaturverzeichnis und ein Register fördern die Orientierung.

Kaum beachtet Ullrich die politisch-wirtschaftlichen Entwicklungen in der Landwirtschaft. Ebenso fehlt weitgehend ein Blick auf die politischen und sozialen Maßnahmen der beiden christlichen Kirchen.

In summa werden in diesem Buch die Interdependenzen zwischen dem wirtschaftlichen Niedergang durch die Inflation und der Destabilisierung der Demokratie deutlich. Die Währungsreform und den daran anschließenden wirtschaftlichen Aufschwung konnte die Republik nur erfolgreich realisieren, weil sie mit dem Dawes-Plan Lösungen mit den ehemaligen Alliierten erzielte, die auch deren unterschiedlichen wirtschaftlichen Zielen diente. Die Demokratie ging zwar nicht gestärkt hervor aus dem Jahr 1923, bekam aber eine Atempause zum Überleben.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Dieter Kempkens, Rezension von/compte rendu de: Volker Ullrich, Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, München (C. H. Beck) 2022, 441 S., 25 Abb., ISBN 978-3-406-79103-1, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2022/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.4.92314