Seit 2001 veranstaltet das Collège de France jeweils im Herbst zu Beginn des akademischen Jahres ein interdisziplinäres Kolloquium. Die teilnehmenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen vom Collège de France, von anderen französischen und einigen ausländischen Institutionen. Der von Samantha Besson herausgegebene Band »Inventer l’Europe« gehört in diese Reihe und dokumentiert die Zusammenkunft im Herbst 2021. Die Einleitung ist auf den 2. Mai 2022 datiert – soweit nötig und sinnvoll wurde den Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 in dem Band vor Drucklegung Rechnung getragen.

Die Herausgeberin setzt bei einem (der vielen …) Europa-Mantras des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron an, man müsse Europa neu gründen (»refonder«). Macron neigt politisch ein wenig zu einer Rhetorik des Bruchs. Diese ist nicht typisch für Europa, meistens herrscht eine gewisse Zurückhaltung, was Ideen von neu gründen, neu erfinden usw. angeht. Aber das sind sicherlich keine Argumente dagegen, ein Kolloquium und die folgende Publikation der Beiträge unter die Überschrift »Inventer l’Europe« zu stellen.

Das Interesse des Bandes liegt in der Multidisziplinarität. Zusammen bilden die Beiträge ein Lesebuch, das Interesse beanspruchen kann, weil es erfordert, sich im Verlauf von 350 Seiten auf unterschiedliche Zugänge einzulassen: Geschichte (verschiedene Teildisziplinen), Astronomie und Kosmologie, Linguistik, Literaturwissenschaft, Naturwissenschaften, Philosophie, Physik, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft, Religionswissenschaft, Sinologie, Wirtschaftswissenschaften. Weitere Zugänge werden durch hohe Funktionsträger in Verwaltung und Diplomatie eröffnet. Es erweist sich schnell, dass das mit dem »Inventer l’Europe« nicht sehr wörtlich genommen wird, vielmehr stellt die Formulierung einen Hebel für Denkanstöße dar, die zu »mehr Europa« führen. Alle Beiträge sind anregend und für sich lesbar, die Reihenfolge im Buch ist nicht zwingend, auch wenn die Unterteilung in vier Abschnitte, die alle in den Überschriften mit dem »inventer« spielen, eine grobe Strukturierung bereitstellt, die aber eher verdeckt, dass auch die nicht-geisteswissenschaftlichen Aufsätze meistens eine historische Rückbindung des Themas beinhalten.

Der erste Teil »Les inventions de l’Europe« bezieht sich auf historische Imaginationen wie den Europa-Mythos oder erfindungsreiche Praktiken durch eine Art des Sprechens, die Sprachen »kreolisiert« und den Mythen von Nationalsprachen zuwiderläuft. Ein Beitrag geht der Frage nach, wie Musik die Charakterisierung als »europäisch« zuteilwurde – hier wären allerdings die Forschungen von David Irving zum 18. Jahrhundert zu berücksichtigen, die nicht erwähnt werden1. Der vierte Aufsatz in dieser ersten Sektion zu »Les inventions politiques de l’Europe« (Patrick Boucheron) unterstreicht, wie wichtig Sensibilität für die Brüche, Vorsicht vor vermeintlichen Kausalzusammenhängen, Blick für métissages und Kreolisierungen in der Entwicklung Europas sind – anstelle von einseitig linear-geschichtlichen Betrachtungen. Der fünfte Beitrag skizziert die Entwicklung der Zusammenarbeit in verschiedenen Wissenschaftsfeldern in Europa, die schon vor dem Ersten Weltkrieg mitunter in dauerhafte Organisationsstrukturen mündete.

Der zweite Abschnitt »L’Europe des inventions« behandelt verschiedene Wissenschaften und Technikbereiche ganz im Sinne der Überschrift. Der dritte Teil befasst sich mit historischen Konstruktionsprozessen in Bezug auf den Mittelmeerraum, Afrika, Russland und China. Es geht nicht nur um die europäische Konstruktionsperspektive, sondern mehr noch um Wechselseitigkeiten.

Der letzte Abschnitt bietet Optionen zu »Les Europe à inventer« an, und zwar im Bereich des Sozialen, der Öffentlichen Hand und der Verteidigung. Das sind zweifelsfrei Felder, in denen sich ein künftiges Europa (meistens ja doch im Sinne von EU) vom jetzigen deutlich unterscheiden wird. Der letzte Aufsatz dreht sich um Europa als stark säkularisierte Weltregion. Die Einschätzung, dass eine hochgradig fortgeschrittene Säkularisation nur in Bezug auf Europa festgestellt werden könne, wird aber zurückgewiesen. Hier braucht man also nicht nach einem speziellen Element europäischer Identität zu suchen.

Als Leser fährt man am besten, die Publikation als Lesebuch zu betrachten. Den Stand der Forschung geben die Beiträge aber nicht zwingend wider, das war wohl auch gar nicht die Absicht. Eine als anregend empfindbare Lektüre verhindert dies nicht.

1 David R. M. Irving, Ancient Greeks, world music, and early modern constructions of Western European identity, in: Reinhard Strom (Hg.), Studies on a Global History of Music, London, New York 2018 (SOAS Musicology Series), S. 21-41.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Wolfgang Schmale, Rezension von/compte rendu de: Samantha Besson (dir.), Inventer l’Europe, Paris (Les Éditions du Collège de France) 2022, 350 p. (Colloques de rentrée), ISBN 978-2-4150-0325-8, EUR 28,90., in: Francia-Recensio 2023/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94363