Der Sammelband »Vivre noblement en son hôtel. Résidences aristocratiques et vie sociale dans les capitales européennes au XVIIIe siècle« steckt sich das hohe Ziel, die Bedeutung des adeligen Stadthofs für die Behauptung der (privilegierten) Stellung des Adels in den Gesellschaften verschiedener europäischer Länder auszuloten. Hierfür analysieren überwiegend Kunsthistoriker in zwölf Beiträgen unter Aufnahme von wirtschafts- und sozialhistorischen, praxeologischen und symbolgeschichtlichen Ansätzen, wie die Bewohner adeliger Stadthöfe ihrem gesellschaftlichen Rang Ausdruck verliehen, durch die Art und Weise, wie sie Räume und Dinge in ihrem Alltagsleben nutzten. Stéphane Castellucci, der den Band verantwortet, kann als ausgewiesener Kenner der materiellen Kultur des Interieurs und des Handels mit Luxusgütern gelten. Eine kenntnisreiche Einführung in die Forschungslage, eine Verortung des eigenen ambitionierten Anliegens und eine Reflektion über den fachspezifischen Blick und dessen Erweiterung, etwa durch praxeologische, sozialhistorische etc. Ansätze, erfolgt bedauerlicherweise nicht, da eine programmatische Einleitung fehlt. Auf vier Seiten werden lediglich der Aufbau des Sammelbandes und die Themen der einzelnen Beiträge benannt.
Der reich bebilderte Sammelband ist in vier Teile mit jeweils drei bis vier Artikeln gegliedert und enthält für jeden Beitrag eine separate Bibliografie und ein gemeinsames Register. Der erste Teil »De la disposition des lieux« beschäftigt sich mit der Anordnung und Funktion der Räume in adeligen Stadthöfen, was am Beispiel der Bedeutung von Nutzräumen, der Ausstattung von Stadthöfen mit Holztäfelungen und dem Bedeutungswandel von Galerien im 18. Jahrhundert diskutiert wird. Hier sticht der Beitrag von Christophe Morin heraus, der sich unter Einschluss von kunsthistorischen, sozialhistorischen und praxeologischen Ansätzen den Teilen eines adeligen Stadthofs (u. a. Marstall, Küchen, Unterkünfte der Dienerschaft) widmet, die für das Funktionieren des Alltagslebens unabdingbar waren, aber in der Forschung zu adeligen Stadthöfen bisher wenig Beachtung gefunden haben. Morin diskutiert sowohl die funktionsspezifische Lage der Räume, ihren Ort im Gesamtkonzept des adeligen Stadthofs, die hierarchische Nutzung von Maßstab, Proportionen, Material und Dekor im Stadthof, alltägliche Fragen der Wasserversorgung und Brandgefahr, als auch die zur Aufrechterhaltung des Alltagsbetriebs notwendige Dienerschaft und ihren Platz im Stadthof, ebenso wie Konzepte von Komfort (des Herrn) und Sicht- oder Unsichtbarkeit (der Dienerschaft).
Der zweite Teil »Du bon usage des espaces« behandelt das Aufkommen oder den Wandel spezifischer Räume im Stadthof im 18. Jahrhundert wie Bäder, Boudoirs oder Räume, die ein Minister in seinem Stadthof benötigte. Ronan Bouttier stellt Bäder als Ausdruck von neuen Sauberkeits- und Komfortvorstellungen vor, die als neuer Typus von Prestige-Räumen durch verwendete Materialien und Dekor ausgezeichnet wurden und bei denen nicht zuletzt das Vorhandensein von Wasser im Überfluss als Luxus zelebriert wurde. Im zweiten, nach Ansicht der Rezensentin besonders interessanten Teil seines Beitrages nimmt Bouttier verstärkt sozialhistorische und praxeologische Fragestellungen auf: Hier deutet er die Praxis des Badens, die Rolle von Dienstboten beim Baden und die Entwicklung von Spezialisten (barbiers-baigneurs-étuvistes-peruquiers) vor dem Hintergrund der Fragen nach Schamgefühl und neuen Formen distanzierten Dienens, die durch technische Entwicklungen ermöglicht wurden.
Der dritte Teil »Vivre en son hôtel« behandelt Aspekte des Lebens im adeligen Stadthof, wobei das Verhältnis von Herrn und Dienerschaft, die Rolle von Tafelsilber für die adelige Repräsentation, die Kleidung weiblicher Adeliger als sozialer Marker und adelige Stadthöfe als Profilierungsräume für Musiker, um u. a. Aufträge und die Protektion eines Mäzens zu erhalten, diskutiert werden. Michèle Bimbenet-Privat nimmt unter kunst- und wirtschaftshistorischen Gesichtspunkten in den Blick, welchen Platz Tafelsilber – sowohl singuläre Goldschmiedeobjekte als auch das zum täglichen Nutzen gedachte, serielle Geschirr – bei der Repräsentation Adeliger einnahm, wobei sie geschickt den Einzelfall Penthièvre mit allgemeineren Erkenntnissen und Forschungsfragen verbindet und ausführlicher auf Forschungsprobleme (u. a. Ortswechsel der Adeligen, Wert der Stücke nach Gewicht) eingeht. Bimbenet-Privat diskutiert in ihrem Beitrag frühneuzeitliche Essenspraktiken ebenso wie die Zusammensetzung von Tafelsilber aus Erbstücken und Auftragsarbeiten, aber auch dessen Charakter als Wertanlage, der sich in Notsituationen leicht zu Geld machen ließ. Ererbtes Tafelsilber war aber auch eine Materialressource für die Fertigung von neuen Stücken.
Im vierten Teil »Les aristocraties européennes« werden adelige Stadthöfe in Wien, London und Madrid besprochen, sodass die Ankündigung im Titel, sich mit adeligen Stadthöfen in europäischen Hauptstädten zu beschäftigen, letztlich eingeholt wird. In seinem Beitrag betont David García Cuento, wie die Zurückhaltung bei der Gestaltung adeliger Stadthöfe in Madrid, um nicht in Konkurrenz mit dem König zu treten, im Verlauf des 18. Jahrhunderts aufgegeben wurde. David Adshead hebt hervor, dass in London ansässige Adelige sich auf ihre Landsitze zurückzogen, sodass sie die Nähe zu ihrem Grundbesitz als Quelle für ihren Reichtum und sozialen Status suchten. Zugleich blieb eine große Varianz an Wohnsitzen von Adeligen in London bestehen. Für Wien stellt Éric Hassler heraus, wie Adelige aus verschiedensten Teilen des Habsburgerreichs durch Ausgestaltung des Stadtbildes ihre politische Macht zum Ausdruck zu bringen versuchten. Da Hassler vorbildlich die dominierenden Forschungsansätze im deutschsprachigen Raum vorstellt, bietet sich den Lesern und Leserinnen, die nicht mit den aktuellen, deutschsprachigen Debatten vertraut sind, ein zusätzlicher Mehrwert. Eine solche Reflektion des eigenen länder- und fachspezifischen Blickwinkels, der Forschungsentwicklungen und des aktuellen Stands der Debatten im Feld der Materialität und Adelskultur wäre für alle Beiträge wünschenswert gewesen.
Bei der Lektüre des vierten Teils fällt die Asymmetrie im Aufbau des Sammelbands ins Auge: Zehn Beiträgen mit Detailstudien zu Frankreich stehen drei Überblicksdarstellungen zu »Resteuropa« gegenüber. Dies wäre verschmerzbar, wenn es ein Fazit gäbe, dass die Einzelaspekte und ‑ergebnisse bündelt und in der Forschung bzw. in einem übergeordneten Forschungsvorhaben verortet. So wird die Ausgangsfrage nach der Bedeutung des adeligen Stadthofs für die Behauptung der (privilegierten) Stellung des Adels in den Gesellschaften verschiedener europäischer Länder nur partiell von den einzelnen Beiträgen beantwortet, die für sich genommen – nicht nur für Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen – äußerst lesenswert sind.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Alexandra Schäfer-Griebel, Rezension von/compte rendu de: Stéphane Castelluccio (dir.), Vivre noblement en son hôtel. Résidences aristocratiques et vie sociale dans les capitales européennes au XVIIIe siècle, Paris (CNRS Éditions) 2021, 351 p. (CNRS Alpha), ISBN 978-2-271-13533-9, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94367