Csukás untersucht in dieser Arbeit, mit der er an der Theologischen Fakultät Bern promoviert wurde, die »für den Pietismus zentralen theologischen Kategorien ›Reich Gottes‹ und ›Heilsgeschichte‹ [...] anhand der erfolgreichsten und weitestverbreiteten pietistischen Erbauungszeitschrift aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts« (S. 15), der »Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes«, und ihrer Folgeserien. Als Herausgeber der Zeitschrift fungierte Traugott Immanuel Jerichovius (1696–1734); nach seinem Tod wurde sie unter veränderten Titeln vom Abt des Klosters Berge, Johann Adam Steinmetz (1689–1762), ediert. Für die Verbreitung von Nachrichten aus aller Welt, die Konversionen und Missionierung zum evangelischen Christentum betrafen, waren diese Zeitschriften von großer Bedeutung. Rainer Lächele hat neben einem Repertorium, das den Inhalt des Organs erschließt und die Zeitschrift knapp in den historischen Kontext einordnet (erschienen 2004), 2006 auch seine Habilitationsschrift publiziert, in der er die »Materien« in den Kontext weiterer Erbauungszeitschriften einordnet und ihre Redaktion und Wirkung untersucht. Aufbauend auf Lächeles Forschung konstatiert der Verfasser dieser dezidiert theologiegeschichtlichen Dissertation, dass das Hauptmotiv der Zeitschrift der Nachweis der Wirksamkeit Gottes in der »Realität«, der Geschichte und Gegenwart von Herausgebern und Lesern, sei (S. 16).
Nach einer Einleitung, die unter anderem die Fragestellung vorstellt und die Quelle in den mediengeschichtlichen Kontext einordnet, folgen Ausführungen zu »Reich Gottes und Heilsgeschichte als Programm der ›Materien‹« (Kap. II, S. 42–89). Die Erweckten hätten, so Csukás, eine »gemeinsame Heilstopographie des Reiches Gottes« (S. 82) konstruiert: Die Nachrichten seien in ein »Koordinatennetz des Heils« (S. 82) eingefügt worden, nach dem Raum (im Reich Gottes) und der Zeit (in der Heilsgeschichte). Der Verfasser möchte diese »geistliche Landkarte« (S. 82) rekonstruieren. Zweckmäßig sind nach Csukás die folgenden »Topoi des Reiches Gottes«, deren Darstellung das Zentrum der Arbeit bildet: Heidenmission, Judenmission, Papsttum, Verfolgung von Protestanten, Verbreitung des Wortes Gottes, obrigkeitliche Verordnungen, schließlich Providentia Dei und Wunder. Diese Themen seien in den 1730er- und 1740er-Jahren in den »Materien« traktiert worden. Die heilsgeschichtliche »Sättigung« stieg nach Csukás’ Analyse schließlich beim zeitlich nachfolgenden, in den 1740er-Jahren einsetzenden Topos der Erweckungen an. Sodann folgen ein kurzes Kapitel, das die Darstellung der Aufklärung in den »Materien« thematisiert, und ein knappes Fazit, das in Thesenform Ergebnisse der Arbeit benennt.
Kurze Anmerkungen verdienen die Begriffsbestimmungen. Der Verfasser unterscheidet zwischen Pietisten und Erweckten, wobei sich der letzte Begriff auf pietistische Verweise auf internationale, interkonfessionelle und »interdenominationell[e]« (S. 38) Gemeinschaft und den pietistischen Versuch, unter heilsgeschichtlichen Vorzeichen an der globalen Ausbreitung des Reiches Gottes zu arbeiten, beziehe sowie an die internationale Forschung anschließe (S. 38). Schon an der Analyse der Vorreden (II.3., S. 67–81) zeigt sich, dass dem Begriff der Erweckung, wie auch dem Adjektiv »erweckt«, in dieser Arbeit eine heuristische Funktion zukommt: Der »erweckte Mensch« steht bei Csukás als Synonym etwa für die »Zeugen der Wahrheit und Knechte des lebendigen Gottes«, die in der Vorrede der »Materien« den Feinden der Wahrheit gegenübergestellt werden (»Sammlung auserlesener Materien«, 1 [1731], fol. 3r; vgl. Csukás, S. 71).
In dieser Rezension wird exemplarisch auf den ersten Topos, die Heidenmission, rekurriert (S. 90–128). Die »Halleschen Berichte« seien, so der Verfasser, von 1732 bis 1740 rezipiert worden; auf die Zitate aus den Berichten komme im untersuchten Material eine ungefähr gleiche Menge an Paraphrasierungen. Csukás verbleibt bei der Darstellung meist auf der Ebene der Wiedergabe in der »Fortgesetzten Sammlung« und verweist nicht auf die »Halleschen Berichte«. Der Autor hatte sich eigens vorgenommen, für die Darstellung der Mission in Indien exemplarisch auch die Rezeption der Quellen zu untersuchen (S. 40). Stellenweise wäre dies sinnvoll gewesen, um den Sinn zu erschließen, etwa wenn die »Fortgesetzte Sammlung« nach Ansicht des Verfassers von »einer kleineren Erweckung in den Landgemeinden zu Malabar [!] berichtet« (S. 100) – die Quelle spielt auf das Wirken eines indischen Mitarbeiters der Mission an, einen Aspekt, den Csukás erst im folgenden Abschnitt anhand anderer Beispiele erwähnt. Das Verhältnis zwischen dem Kenntnisstand, den die »Halleschen Berichte« vermittelten und der in der »Fortgesetzten Sammlung« rezipiert wurde einerseits und dem Stand der Forschung andererseits bleibt stellenweise etwas unklar.
Csukás betont, dass in den »Materien« ein enger Zusammenhang zwischen Heiden- und Judenmission gezogen und auch die Konversion zum reformierten Protestantismus in einem römisch-katholischen Gebiet, der Grafschaft Jülich, positiv bewertet worden sei (S. 92–94). Deshalb hätten Katholiken und Heiden für die evangelischen Missionare »grundsätzlich auf derselben Ebene« (S. 106) gestanden – und unter dem Stichwort Heidenmission werden die römisch-katholischen Konvertiten, wie auch die Darstellung der russisch-orthodoxen Kirche, eingeordnet. Der Sinn, den der Verfasser dem Begriff des Heiden zumisst, lässt sich implizit aus der Arbeit erschließen.
Ausführlich wird Indien erwähnt, aber auch Grönland, Amerika – häufig unter Verweis auf Latourettes »History of the Expansion of Christianity«, ein Werk der protestantischen Missionsgeschichtsschreibung, das neuere Hinweise zu seinem Kontext verdienen würde (vgl. nur S. 90, Anm. 2). Ein historischer Blick auf die verwendete Forschungsliteratur ist nicht Sache des Verfassers. Welcher Nutzen aus weitgehend unkritischen Quellenbetrachtungen zu »den« »Indianern« erwächst (S. 108–114), bleibt mir unklar. Im mikroskopischen Blick auf den Anmerkungsapparat in diesem Abschnitt fallen mir zwei Dinge auf, die auch an anderen Stellen zu beobachten sind: einerseits die Zitation aus den Quellen zum Beleg des Haupttextes; Zitate, die hier und an anderen Stellen deutlich mehr Fragen aufwerfen, als der Haupttext zu beantworten vermag. Andererseits sind bei den Verweisen Fehler unterlaufen, die ein gründlicheres Lektorat der Arbeit hätte verhindern können (vgl. hier S. 111, Anm. 111–113). Betrachtet man insgesamt die Ausführungen, so setzt Csukás an zahlreichen Stellen mit Ausführungen zu den in den »Materien« verhandelten Sachverhalten ein. Um der Lesbarkeit der Arbeit willen ist dies sicherlich zu begrüßen; als konzise Überblicke über zentrale Themen wie die Aufklärung wären sie wohl falsch verstanden.
Warum im Literaturverzeichnis in der Neuzeit edierte Quellen zur Sekundärliteratur gezählt werden, erschließt sich mir ebenfalls nicht. Einige Beiträge zu Lexika werden gesondert aufgeführt (VI.6., S. 398), andere bei der Sekundärliteratur eingeordnet; eine Systematik ist nicht zu erkennen. Die alphabetische Reihung der Beiträge einzelner Verfasser wäre wünschenswert gewesen. Hilfreiche Register der Orte und der Namen beschließen diese Arbeit.
Der Verfasser wählt darüber hinaus etwa bei der Darstellung der »Heidenmission« einen teleologischen Zugang, indem er konstatiert, dass auf die »lang[e] Dürreperiode der Missionsabstinenz« (S. 128) während der lutherischen Orthodoxie die Missionserfolge als »erste Vorboten von Regenschauern« (ebd.) gefolgt sein sollen, die den Boden für das 19. Jahrhundert bereitet hätten (ebd.). Kenneth Latourette konkludierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits im Rückblick auf die gesamte Kirchengeschichte: »Throughout its history [sc. the history of Christianity, Anm. C. S.] it has gone forward by major pulsations. Each advance has carried it further than the one before it. Of the alternating recessions, each has been briefer and less marked than the one which preceded it«1. In gewisser Hinsicht mag Csukás, der durch umfangreiche Zitate in die Quelle einführt und sich um einen systematisierenden Zugriff auf die Inhalte bemüht, diese These bestätigen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Christoph Schönau, Rezension von/compte rendu de: Gergely Csukás, Topographie des Reiches Gottes. Die »Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reiches Gottes« und ihre Fortsetzungsserien, Göttingen (V&R) 2020, 409 S., 1 Abb. (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 66), ISBN 978-3-525-51703-1, EUR 100,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94369