Von den vielen Veröffentlichungen, die rund hundert Jahre nach Ausbruch der Reformation zu einer erneuten Umkehr im Glauben aufriefen, fanden nur wenige ein derart großes Echo wie die drei anonym erschienenen Texte »Fama Fraternitatis«, »Confessio Fraternitatis« und »Chymische Hochzeit: Christiani Rosenkreutz«. Die so genannten Rosenkreuzer-Manifeste riefen mit ihren Schilderungen der Prinzipien eines vorgeblich seit Langem im Verborgenen existierenden Ordens der Rosenkreuzer und mit ihrer Forderung nach einer sogenannten Generalreformation eine europaweite Flut an Verteidigungs- und Gegenschriften hervor. Kaum weniger umfangreich dürfte mittlerweile die einschlägige Forschung sein, wobei die Einordnungen und Einschätzungen hinsichtlich der drei Werke stark auseinandergehen. Die Texte gelten vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als zutiefst heterodox, wurden oft als paracelsistisch und gelegentlich als protoaufklärerisch beschrieben, um dann in jüngerer Zeit doch wieder in die Nähe des orthodoxen Luthertums gerückt zu werden. Mit ihrer aus einer Nimwegener Dissertationsschrift hervorgehenden Publikation unterzieht Lyke de Vries die Manifeste und die frühen Reaktionen, die sie hervorriefen, nun einer neuerlichen Interpretation.
In ihrer Schwerpunktsetzung und ihrem Aufbau – insgesamt drei Teile, von denen der erste und der letzte sehr ausführlich sind, der zweite hingegen eher knapp ausfällt – steht die Untersuchung im Zeichen der traditionellen Ideengeschichte. Die Wirkung der Manifeste, so die Kernthese, könne nur vor dem Hintergrund des Aufrufs zu einer Generalreformation verstanden werden. Da dieser der Autorin zufolge maßgeblich in »Fama« und »Confessio« entfaltet wird, bleibt die »Chymische Hochzeit« in der Analyse weitgehend unberücksichtigt.
Den Komponenten und möglichen Wurzeln der Idee der Generalreformation widmet sich der erste Teil des Werks in zwei Kapiteln. Wie in Kapitel eins dargestellt wird, hatte das Konzept drei Bedeutungsebenen. De Vries umschreibt sie mit den aus den Quellen gewonnenen, für die Untersuchung auch titelgebenden Begriffen Reformation, Revolution und Renovation: »Reformation« stehe für religiösen Aufbruch, »Revolution« für ein zyklisches Weltbild und die Hoffnung auf eine Rückkehr in ein goldenes Zeitalter und »Renovation« für die Erneuerung von Philosophie und Gelehrsamkeit. Die Analyse richtet sich maßgeblich gegen die Bewertung der Rosenkreuzer-Manifeste als Produkte der Ideenkenwelt des orthodoxen Luthertums. Was auf der Oberfläche als Anknüpfen an protestantisches Gedankengut erscheine, habe vielfach ältere Wurzeln und führe weitab vom traditionellen Kanon universitärer Theologie. Kapitel zwei bekräftigt diese Interpretation, indem es verschiedene Bezüge der Manifeste zum Paracelsismus, d. h. weniger zu Paracelsus selbst als vielmehr zu den Schriften seiner Epigonen, herausarbeitet.
Die Frage danach, wer »Fama« und »Confessio« verfasst haben könnte, behandelt die Autorin bewusst erst im zweiten Teil bzw. im dritten Kapitel ihrer Untersuchung. Im Einklang mit der überwiegenden Mehrheit der Historiografie verortet sie die Texte im Umfeld des Theologen Johann Valentin Andreae, der nachweislich auch die »Chymische Hochzeit« verfasst hat. De Vries nimmt eine Co-Autorschaft Andreaes mit dem Mediziner Tobias Hess an. Ausgehend von dieser Einordnung wird dann herausgearbeitet, wie die beiden mutmaßlichen Verfasser den Gedanken der Generalreformation in weiteren Texten inklusive einiger unveröffentlichter Manuskripte interpretierten.
Im umfangreichen dritten Teil werden schließlich zeitgenössische Reaktionen auf die Manifeste untersucht. Während Kapitel vier sich den Sympathisanten der Rosenkreuzer zuwendet, stehen im anschließenden fünften Kapitel mehrere von den Texten ausgelöste Kontroversen im Fokus. De Vries arbeitet mit einer breiten Palette an Autoren und Texten, in der sich neben bereits gut erforschten Figuren wie dem frühen Unterstützer der Rosenkreuzer Adam Haselmayr auch weniger bekannte, teils anonyme Traktate finden. Die frühe Rezeption der Manifeste war de Vries zufolge zutiefst disparat: Eben weil Andreae und Hess den Gedanken der Generalreformation auf unterschiedlichen Ebenen entfalteten, konnten die Texte demnach ein so breites und vielfältiges Echo hervorrufen.
Die Stärke der Untersuchung liegt in der Vertrautheit der Autorin mit vielen Primärquellen. Die Ausführungen zeugen nicht allein von einer auf Details und semantische Nuancen achtgebenden Auswertung der Manifeste selbst, sondern auch von einer profunden Auseinandersetzung mit vielfältigen, teils kaum erforschten geistesgeschichtlichen Traditionslinien. In konsequent gut lesbarer Weise führt der Text beispielsweise in unterschiedliche vormoderne Konzeptionalisierungen der Endzeit oder in die verschiedenen Schattierungen der sogenannten Philosophia perennis ein.
Probleme zeigen sich jedoch insbesondere in methodischer Hinsicht. Was in der Einleitung nicht ohne Pathos als fundamental neue Perspektive auf die Rosenkreuzer beschrieben wird, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als klassische Ideengeschichte mit erkennbar starker Anlehnung an einzelne Größen des Feldes wie Carlos Gilly und mit Ergebnissen, die etwa in der Heterodoxiefrage oder beim Thema der Autorschaft die konventionelle Bewertung der Manifeste eher bestätigen denn infrage stellen. Mit dem ideengeschichtlichen Zugriff kommen indes auch die altbekannten Schwierigkeiten: Textimmanent lässt sich vieles nicht beweisen und es bleibt bei der Feststellung von mal mehr, mal weniger überzeugenden »similarities« (S. 51, 52, 63, 162, 176, 183 usw.): Dass etwa die Identifikation des Papstes mit dem Antichrist wirklich stärker beim mittelalterlichen Autor Joachim von Fiore anknüpfte als bei dem im reformatorischen und postreformatorischen Diskurs virulenten Antikatholizismus (S. 31–39), erscheint bei allen etwaigen Ähnlichkeiten letztlich wenig glaubhaft. Generell wäre eine stärkere Berücksichtigung des realgeschichtlichen Kontextes förderlich gewesen. Bezugnehmen lassen hätte sich hierbei z. B. auf Forschungen zu den Praktiken frühneuzeitlicher Kontroverstheologie, zum katholischen Bruderschaftswesen oder zu den Anfängen der Sozietätskultur. Die Nebenthese, Andreae habe in seinem Werk bereits pietistische Tendenzen gezeigt (S. 188), wird ohne Berücksichtigung der einschlägigen Sekundärliteratur entwickelt.
Bei aller Kritik bietet das Werk mit seiner detaillierten Textanalyse gleichwohl eine nützliche Ergänzung der bisherigen Rosenkreuzerforschung.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Lennart Gard, Rezension von/compte rendu de: Lyke de Vries, Reformation, Revolution, Renovation. The Roots and Reception of the Rosicrucian Call for General Reform, Leiden (Brill Academic Publishers) 2021, 444 p. (Universal Reform, 3), ISBN 978-90-04-25022-2, EUR 115,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94371