Von allen geschichtswissenschaftlichen Textgattungen ist die Biografie sicherlich diejenige mit den meisten Fallstricken. Zum einen besteht die Gefahr, dass der Autor die Geschichte »seines« Protagonisten verzerrt darstellt: sei es durch eine dämonisierende, sei es durch eine ins Hagiografische abgleitende Beschreibung seines Charakters und seiner Taten. Zum anderen neigen Biografen nicht selten dazu, die Bedeutung des Einzelnen überzubewerten und die Rolle anonymer Strukturen und durch sie ausgelöster Eigendynamiken zu verkennen. Im Falle einer Napoleon-Biografie stellt sich noch ein drittes Problem: Wie soll man der Ambiguität eines Handelns gerecht werden, in dem nahezu idealtypisch grundlegende Wesenszüge moderner Politik auftreten? Schließlich repräsentiert Bonaparte wie kaum ein anderer Staatsmann oder Politiker der Neuzeit die Janusköpfigkeit der Moderne: deren historisch beispielloses Reformpotential, aber eben auch deren kaum zu bändigendes Gewaltpotential. Dass sich Napoleons Handeln nicht nur auf Frankreich beschränkte, sondern ganz Europa und sogar Teile Amerikas, Asiens und Afrikas erfasste, macht den Korsen zudem zu einer Gestalt der modernen Globalgeschichte und fordert dem Biografen eine weit über Frankreichs Grenzen hinausreichende Kenntnis seiner Wirkungsorte ab.

Wie geht der viele Jahre an der Universität Duisburg-Essen lehrende und forschende Historiker Klaus Deinet in seiner 2021, anlässlich des 200. Todestages erschienenen Biografie mit dieser dreifachen Herausforderung um? Gelingt es ihm, die zahlreichen, überkommenen Vorstellungen von Napoleon zu dekonstruieren und dem Faktor Persönlichkeit auf ausgewogene Weise gerecht zu werden? Gelangt er zu einem angemessenen Urteil über die Person in ihrer Zeit?

Im Untertitel des Buches »Das Leben einer Legende« klingt bereits an, dass Deinet der bereits zu Lebzeiten und zum Teil von Napoleon selbst forcierten Legendenbildung das nüchterne Bild eines Machtmenschen entgegensetzen will, was er im Text dann auch konsequent umsetzt. Denn Deinet – und das ist das erste große Verdienst seiner Biografie – bewegt sich nicht nur auf der Ebene des Faktischen, sondern bezieht durchweg auch die Deutungsebene ein. Das chronologisch erzählende Buch, das Napoleons Leben in insgesamt acht Etappen nachzeichnet und die frühe Karriere (bis 1796), die Phase der Machteroberung (1796–1799), die frühe Zeit als Erster Konsul der Republik (1799–1802), die autoritäre Wende (1802–1804), die Errichtung des Kaisertums (1805–1807), die folgenden »Jahre der Illusionen« (1807–1812) und die von Niedergang und Scheitern geprägte Schlussphase (1812–1821) behandelt, enthält immer wieder Passagen, in denen die gängigen Narrative, Napoleon-Bilder und Forschungsthesen kritisch referiert werden.

Eine Distanz zur behandelten Person stellt sich dadurch fast automatisch ein. Von einer Hagiografie oder einer Diabolisierung kann beim vorliegenden Buch denn auch keine Rede sein. Für Deinet ist Napoleon weder Heilsbringer noch Unmensch, weder »Retter« noch »Verderber« der Französischen Revolution, weder »Schlachtengott« noch »Verkörperung des Bösen« (S. 9). Bewusst verzichtet Deinet auf solche Beinamen, wie sie in den letzten 200 Jahren für das Leben oder Lebensabschnitte Napoleon Bonapartes geprägt worden sind. Vielleicht hätte Deinet konsequenterweise auch andere geläufige, in der Regel diminuierend verwendete Bezeichnungen (wie »Parvenü«, oder »korsischer Emporkömmling« [S. 216]) vermeiden oder zumindest in Anführungsstriche setzen sollen. Nichtsdestoweniger gelingt es ihm, die verheerende Bilanz von Napoleons militärischem Wirken – und das ist das zweite Verdienst der vorliegenden Biografie – sine ira et studio zu präsentieren. Auf zwei Millionen beziffert Deinet allein die Zahl der Menschen, die bei den napoleonischen Kriegen auf zum Teil grauenhafte Art und Weise ihr Leben ließen (S. 337).

Auch die in der Schlussbetrachtung (S. 337–342) gezogene politische Bilanz fällt für Deinet negativ aus – wobei er sich allerdings ausschließlich auf Aspekte bezieht, die die Grenzen, die Finanzen, die Besatzung und die außenpolitische Handlungsfreiheit betreffen. Das darin zum Ausdruck kommende eingeschränkte Verständnis von Politik prägt auch den vorausgehenden zweiten Hauptteil (S. 189–336). Ausführlich widmet sich Deinet darin Napoleons militärischer und diplomatischer Strategie und Taktik. Über weite Strecken liest sich dieser Teil des Buches fast wie eine militärgeschichtliche Abhandlung, die en détail den Verlauf einzelner Schlachten nachzeichnet und gelegentlich die vertanen Chancen einer alternativen Entwicklung diskutiert. Das genuin Politische, das im ersten Hauptteil (S. 15–185) noch weithin Berücksichtigung findet, tritt im zweiten Teil fast vollständig in den Hintergrund – und das auf allen drei Ebenen (polity, policy und politics). So erfahren wir nur wenig über die politische Verfasstheit des Empire seit 1805 oder über die napoleonische Reformpolitik und die Einführung des »Code civil« im Hexagon und in den napoleoniden Modellstaaten Berg und Westphalen. Auch die Bedeutung der vielfältigen Herrschaftstechniken, die sowohl loyalitätsstiftende Maßnahmen als auch Gewalt und Zensur und nicht zuletzt massive Propaganda umfassten, wird eher kursorisch behandelt. Nicht zuletzt in Anbetracht des weit über Frankreich reichenden Charisma-Glaubens der Bevölkerung muss das überraschen. Die öffentliche Meinung spielt indes in Deinets Biografie nur eine untergeordnete Rolle. Napoleon begegnet uns vielmehr fast durchgehend als nahezu allmächtiger Akteur, sekundiert von einigen französischen Generälen, Diplomaten und Politikern bzw. herausgefordert von einigen wenigen Gegenspielern wie Metternich oder Alexander I.

Nun war Napoleon Bonaparte zweifelsohne eine Ausnahmegestalt, die die Geschichte ihrer Zeit außerordentlich stark geprägt hat. Warum dies möglich war, inwiefern die um 1800 bestehenden Strukturen einen solchen Freiraum für individuelles Handeln schufen oder Napoleons Handeln determinierten, wird im zweiten Teil des Buches jedoch kaum diskutiert. Das ist insofern verwunderlich, als Deinet gleich zu Beginn des ersten Hauptteils explizit darauf hinweist, dass es erst der durch die Französische Revolution ausgelöste strukturelle Wandel war, der den kometenhaften Aufstieg eines Außenseiters wie Bonaparte möglich machte: der Wegfall »jahrhundertalter Strukturen einer hierarchisch gegliederten Ständepyramide« und der nach 1794 einsetzende Bedeutungsgewinn der Armee, die sich »zur eigentlichen Macht im Staate« entwickelte und spätestens seit 1797 die »Herrschaft eines siegreichen Generals« immer wahrscheinlicher werden ließ (S. 22) – auch wenn dabei viel Kontingenz im Spiel war: laut Deinet hätten es vielleicht auch andere Militärs soweit bringen können. Die spezifische Entwicklung, die Frankreich dann seit dem Staatsstreich am 18. Brumaire des Jahres VIII (dem 9. November 1799) nahm, führt Deinet aber fast ausschließlich auf Napoleon, genauer: auf seinen Charakter zurück. Immer wieder spekuliert er über Napoleons Egomanie und verweist auf dessen Maßlosigkeit und dessen »Verbohrtheit beim Abstieg« (S. 9), die diesen verleitet hätten, sein Heil in militärischen und nicht in diplomatischen Lösungen zu suchen, was letztlich das Scheitern seiner Herrschaft vorprogrammiert habe.

Diese vor allem im zweiten Hauptteil zu beobachtende Konzentration auf das Individuelle führt dazu, dass auch andere Fragen wie die nach der in Napoleon sich verkörpernden Janusköpfigkeit der Moderne, nach dem Zusammenhang zwischen Fortschritt und Gewalt nur en passant aufgeworfen werden. Eine solche Erörterung hätte man etwa in Bezug auf Napoleons Rolle in der Sklaverei-Frage erwarten können. Gerade einmal zweieinviertel Seiten widmet Deinet den Ereignissen auf Haiti. Die Chance, den nach Napoleon benannten »Code civil« mit dem von ihm befürworteten »Code noir« zu konfrontieren, wird nicht ergriffen. Aber auch der durch die napoleonische Herrschaft in Mitteleuropa ausgelöste, von Napoleon bewusst forcierte Modernisierungsschub wird kaum behandelt. Gewiss ist Deinet zuzustimmen, dass es zynisch wäre, die positiven Aspekte napoleonischer Herrschaft (den Export der revolutionären Errungenschaften, vielleicht auch die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Erfahrungsraums) mit den Millionen an Toten zu verrechnen (Deinet spricht hier von den Opfern eines »Weltkrieges der Moderne« [S. 194]). Dass indes diese Themen »nur am Rande in eine Biografie« Napoleons gehören sollen (ebd.), kann nicht so recht überzeugen. Schließlich zielten die Reformen für den französischen Kaiser immer auch darauf ab, die Zustimmung der Menschen zu gewinnen und waren insofern ein Mittel seiner expansionistischen Machtpolitik.

Gewalt und Ideale, militärische Besatzung und Reformen waren untrennbar miteinander verbunden – nicht zuletzt dieser Konnex macht die napoleonische Zeit auch für unsere Gegenwart zu einem so ergiebigen Untersuchungsgegenstand. Die Debatte um die Ausdeutungen ist denn auch bei Weitem noch nicht an ihr Ende gelangt. Um an ihr teilzuhaben, bedarf es einer genauen Kenntnis der bisherigen Deutungsgeschichte. Nicht nur dafür erweist sich Deinets Buch als hilfreicher Wegweiser. Auch wer eine nüchtern gehaltene, konzise Darstellung über Napoleons Lebensweg, seinen Weg an die Macht und seine Schlachten sucht, ist mit Deinets übrigens auch in stilistischer Hinsicht sehr lesenswertem Buch gut beraten.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Armin Owzar, Rezension von/compte rendu de: Klaus Deinet, Napoleon Bonaparte. Das Leben einer Legende, Stuttgart (Kohlhammer) 2021, 378 S., 25 s/w Abb. (Urban-Taschenbücher), ISBN 978-3-17-037486-7, EUR 29,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94373