Einige karge Zeilen im »Grand Larousse encyclopédique«, keinerlei Erwähnung im »Dictionnaire critique de la Révolution française«, stattdessen eine spöttische und beharrlich rezitierte Charakterisierung aus der Feder Madame de Staëls, die bei ihrem Aufenthalt in Wien 1807/1808 in ihm nur ein »spectre de l’Ancien Régime« erkannte: Wenig deutet darauf hin, es bei Charles-François, Marquis de Bonnay (1750–1825) mit einem Protagonisten der Französischen Revolution zu tun zu haben, der heute eigentlich zum erweiterten Kreis der Dramatis personae um Sieyès, Mirabeau und La Fayette zu zählen wäre und der auch auf die ganze Revolutions- und Restaurationsära gesehen als einflussreicher »homme politique« zu gelten hätte, wäre seine historische Leistung in der Revolutionshistoriografie der III. Republik nicht nachhaltig marginalisiert worden. Bonney diesem »Vergessen« zu entreißen und dessen Rolle in der hochdynamischen Frühphase der Revolution, insbesondere bei der Abfassung und Verabschiedung der »Déclaration des droits de l’homme et du citoyen« im August 1789, herauszustellen, ist Ausgangspunkt und – wie bei der Lektüre rasch deutlich wird – auch ein persönliches Anliegen François Dulucs, der nun die erste Bonnay-Biografie überhaupt vorgelegt hat.

Über zwei Dutzend teils recht knapp geratene Kapitel spinnt Duluc den biografischen Faden des »vergessenen Vaters« der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Als prägenden Faktor in dessen vorrevolutionärer Karriere (Kapitel 1–3) identifiziert der Autor die Ausbildung Bonnays bei den Oratorianern in Juilly, wo statt altem Standesdünkel aufklärerischer Geist herrschte und intensive Locke- und Rousseau-Lektüre obligatorisch war. Im Pagendienst am Hof Ludwigs XV. um aufklärerische Kritik am Ausmaß des absolutistischen Regiments nicht verlegen, schlug Bonnay schließlich eine Offizierslaufbahn in der Leibgarde Ludwigs XVI. ein und profilierte sich auch in der literarischen Öffentlichkeit mit der ersten vollständigen Übersetzung von Laurence Sternes monumentalem Roman »Tristram Shandy« – sprechender Ausdruck von Bonnays intellektueller Anglophilie. Als Herzstück der Darstellung widmen sich die folgenden Kapitel dem Aktionsradius Bonnays in der frühen Revolutionszeit von 1789 bis zur »Flucht nach Varennes« (Kapitel 4–13). Zunächst nur als stellvertretender Deputierter des Adels seiner Heimatprovinz zu den États généraux entsandt, übernahm Bonnay Ende Juni 1789 das Mandat in der Nationalversammlung, wo bereits um die Form einer künftigen »Déclaration des droits de l’homme« gerungen wurde. Harte Auseinandersetzungen um Formulierungen und Verfahren endeten Mitte August 1789 mit der Ablehnung des von Mirabeaus Comité des Cinq lancierten Syntheseentwurfs einer Erklärung, wodurch das gesamte Projekt vor dem Scheitern stand. Es schlug nun Bonnays große Stunde, die seinen zeitgenössischen Ruf als »conciliateur« begründete und ihn in Dulucs Rezeption in den Kreis der Väter der »Déclaration« erhebt. Mittels eines kühnen Verfahrensvorschlags gelang es Bonnay, die Blockade aufzubrechen, indem er einen bereits existierenden, aber anonymen Textentwurf in die Debatte einbrachte und über jeden der darin enthaltenen Artikel einzeln beraten und abstimmen ließ. Er selbst steuerte die Artikel 7 bis 10 bei. Nicht nur konnte die »Déclaration« auf diese Weise binnen weniger Tage verabschiedet werden. En passant, so argumentiert Duluc, sei angesichts eines bislang nicht reglementierten Deliberationsverfahrens durch dieses raffinierte Prozedere Parlamentsrecht gesetzt worden. Diese in Dulucs Deutung historiografisch völlig unterbelichtete Leistung Bonnays trug dem Anhänger einer parlamentarischen Monarchie in der Folge immerhin die dreimalige Wahl zum Präsidenten der Nationalversammlung ein – jeweils mit breiter Mehrheit von rechts bis ganz links. Auch präsidierte Bonnay – nicht La Fayette oder Mirabeau – zusammen (!) mit Ludwig XVI. dem Föderationsfest am 14. Juli 1790 auf dem Marsfeld. Diesem frühen politischen Zenit, dessen Darstellung zu den aufschlussreichsten Passagen des Buches gehört, folgte eine Serie politischer Rückschläge und Enttäuschungen, die schließlich in Verdächtigungen über eine Beteiligung Bonnays an der »Flucht nach Varennes« gipfelten. Im Oktober 1791 ging Bonnay selbst ins Exil. Konstant beargwöhnt von den längst emigrierten Ultras, die ihm seine lagerübergreifende Kollaboration in der Konstituante ebenso nachtrugen wie seine allzu späte Emigration, saß Bonnay als – wie Duluc nicht müde wird zu betonen – »impartial« und politisch Moderater erneut zwischen den Stühlen, konnte sich aber in den folgenden Jahren, zunächst als Sozius des Duc de Castries, als Vertrauter und an vielen Höfen Europas agierender Geschäftsträger des Comte de Provence/Ludwigs XVIII. etablieren. Es ist Duluc zugute zu halten, dass er die immerhin 23-jährige Emigrationszeit Bonnays (Kapitel 14–19) nach der titelgebenden Pointe (»le père oublié«) nicht als Epilog zu dessen spektakulärer, aber kurzlebiger Revolutionskarriere abhandelt, wiewohl in der ausführlichen Darstellung des Exillebens immer wieder hinlänglich bekannte Versatzstücke und Klischees der älteren frankozentrischen Emigrationshistoriografie hervorbrechen, etwa in der Beschreibung von Bonnays mehrjährigem Aufenthaltsort Wien als »citadelle de la contre-révolution« (S. 203). Duluc versäumt durch diese Engführung, Bonnays exilischen Handlungsraum, jüngeren Forschungen zur Emigration folgend, in Verknüpfung mit den vielfältigen politisch aktiven Akteuren auszudeuten, die infolge der Exklusionsdynamik der Revolution Frankreich verlassen hatten, ihre jeweiligen politischen Projekte unter den Bedingungen der Emigration jedoch nicht minder engagiert und oft in Konkurrenz miteinander fortentwickelten. Eine Konstante in Bonnays politischer Biografie blieb dagegen auch über die Exilzeit hinaus bis in sein letztes Lebensjahrzehnt erhalten: sein Dauerclinch mit den Ultraroyalisten nach der Restauration, vor allem in Gestalt eines anhaltenden Schlagabtausches mit seinem Co-Pair Chateaubriand (Kapitel 20–23).

Im Gegensatz zur revolutionsaffirmativen Historiografie, die mit einem »archi-aristocrate« wie Bonnay wenig anzufangen wusste, weil dieser zeit seines politischen Lebens Monarchie und (frühe) Revolution auszusöhnen suchte, stilisiert Duluc in seinem Werk Bonnay zu einem bewundernswürdigen Muster von Maß und Mitte, von Ausgleich und Kompromissbereitschaft in einer von unerbittlichen Parteikämpfen geprägten politischen Szenerie, was man durchaus als Fingerzeig des Autors auf die politische Aktualität Frankreichs zu lesen versucht ist. Dulucs erklärtermaßen erinnerungspolitischen Intention trägt die Publikation seiner Bonnay-Biografie in der Reihe »Passés/Composés« Rechnung, die als profund argumentierte und erzählerisch einladende Lebensgeschichte eine breite Leserschaft ansprechen dürfte. So eingeordnet, fällt auch der apologetische Grundton, der das Buch durchzieht, weniger schwer ins Gewicht. Die »Déclaration des droits de l’homme et du citoyen« jedenfalls ist nun um einen Vater reicher.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Matthias Winkler, Rezension von/compte rendu de: François Duluc, Le marquis de Bonnay. Le père oublié de la Déclaration des droits de l’homme, Paris (Passés/Composés) 2022, 416 p., ISBN 978-2-3793-3855-7, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94374