Der von Jutta Eming und Volkhard Wels herausgegebene Sammelband »Darstellung und Geheimnis in Mittelalter und Früher Neuzeit« geht zurück auf eine Tagung desselben Titels, die vom 27.–29. September 2018 an der Freien Universität Berlin stattgefunden hat1. Neben der Printausgabe ist der Band auch als Open-Access-E-Book erschienen2. Die insgesamt fünfzehn Beiträge sind in drei Sektionen unterteilt (»Ästhetisierungen«, »Inszenierungen von Geheimnis und Rätsel«, »Geheimnis und Offenbarung«), am Ende steht ein Autorinnen- und Autorenverzeichnis (S. 321–326). Dem Band sind zudem zwölf hochwertige Abbildungen in Schwarz-Weiß beigegeben.
In der Einleitung (S. 1–14) formulieren die Herausgeberin und der Herausgeber das Erkenntnisinteresse als Plädoyer für eine Abwendung von den festgefahrenen, »großen Dichotomien von Wunder und Wissen, Religion und Ästhetik, Geheimnis und Rätsel, sofern sie entlang von Epochengrenzen formuliert werden« (S. 11). Ziel sei stattdessen eine systematische Untersuchung des Phänomens Geheimnis im Schnittfeld verschiedener narratologischer und diachroner Perspektiven: Warum und auf welche spezifische Weise wird etwas als geheimnisvoll oder rätselhaft dargestellt? Wie sind die Texte als ganz besondere, nämlich verschlüsselte Wissensspeicher konstituiert? In welchem wechselseitigen Verhältnis stehen ästhetische und epistemologische Gestaltung?
Die erste Sektion, »Ästhetisierungen«, öffnet mit dem Beitrag Friedrich Wolfzettels (S. 17–23), der das Wunderbare als epochal signifikante, mythische Kraft auffasst und nach der paradoxen Verbindung von Höfischem und Mythischem im altfranzösischen »Lai de l’Oiselet« fragt. Jutta Eming (S. 25–47) untersucht das Verhältnis von Verwunderung und Rätselhaftigkeit im späthöfischen Roman (»Diu Crône«, »Apollonius von Tyrland«), in dem die Protagonisten mit rätselhaften Situationen konfrontiert werden, wodurch Spannung im einen Fall aus dem Nichtwissen, im anderen gerade in der Bewältigung von Unwissen entstehe. Falk Quenstedt (S. 49–65) weist für verschiedene Episoden des »Jüngeren Titurel« auf die Rolle der »Warum-Spannung« durch das Erzählen von Rätsel und Neugier auf dem Feld des Religiösen hin; so gehe etwa von den kunstvollen Bewegungsillusionen der Gralsburg-Architektur eine riskante Faszination aus, die durch technische Erklärungen ihrer Funktionsweise aber gerade als Gegensatz zu teuflisch-magischen Kräften inszeniert werde. Volkhard Wels (S. 67–102) zeigt in seinem Beitrag, dass der rezeptionsästhetische Reiz alchemistischer Texte um 1600 gerade in ihrer rhetorischen Verrätselung liegt, deren Funktion zwischen der Darstellung einerseits wissenschaftlichen, andererseits göttlichen Wissens aufgespannt ist. Susanne Reichlin (S. 103–121) untersucht eine Fassung des geistlichen Wecklieds »Jch wachter«, dessen zur Buße ermahntes Ich in drei hier unikal überlieferten Zusatzstrophen die sonst ausgeblendete Frage diskutiert, um wen es sich bei dem mahnenden Wächter halten möge, und im Ergebnis die Mahnung teils extern, teils aber auch als internalisierte Stimme verortet.
Zu Beginn der zweiten Sektion (»Inszenierungen von Geheimnis und Rätsel«) zeigt Maximilian Benz (S. 125–140) in einer genauen Lektüre der Gralsburg-Handlung des »Parzival«, durch welche Erzählstrategien Wolfram den Gral ins Zentrum der Szenen rückt und ihn zugleich rätselhaft unterdeterminiert belässt, wodurch Protagonist wie Rezipienten zunächst aus dem religiös aufgeladenen Geheimwissen um die Gralszeremonie ausgeschlossen werden. Mit überlieferungsnahem Blick analysiert Beate Kellner (S. 141–164) das Rätsel im »Wartburgkrieg« als spezifische Form des Wettkampfs zwischen poetologischer Referentialisierung und Wissensautorisierung, deren rhetorischer Modus wiederholt in gewaltvollen Drohgebärden mündet. Glenn Ehrstine fragt in seinem Beitrag (S. 165–184) nach dem Ursprung des neuzeitlichen Gattungsbegriffs des Mysterienspiels, der sich nicht vor 1800 belegen lasse, wiewohl diese Untergattung des geistlichen Spiels auf dem mittelalterlichen Typus des Passionsspiels beruhe, und zeigt die frühneuzeitliche Wortgeschichte des »Mysteriums« im europäischen Kontext auf. Stephan Müller (S. 185–200) untersucht das Verhältnis von Geheimschrift und Geheimhaltung zwischen 800 und 1500, wobei er die auratische Konzeption idiosynkratischer Schriftsysteme an mehreren Beispielen – etwa Hildegards von Bingen Lingua ignota – darlegt und Ähnlichkeiten zwischen Funktion und Einsatz von Codes im Kontext herrschaftlicher und mystischer Schriftlichkeit herausstellt. Gegenstand der Studie von Johannes Traulsen (S. 201–212) ist die soziale Dimension des geheimen Handelns der Figuren in Hartmanns »Iwein«, besonders Iweins selbst, der sich beispielsweise anfangs mit Lunete als Verbündeter oder auch später in der Rolle des Löwenritters flexibel Zugang zu unterschiedlichen Gruppen verschaffen kann.
Die dritte Sektion (»Geheimnis und Offenbarung«) beginnt mit einem Beitrag von Beatrice Trînca (S. 215–229), die anhand des Begriffspaars sacramentum und secretum nach Darstellungsformen von Heimlichkeit und Offenbarung und der Rolle der Stigmata in deutschsprachigen Franziskus-Viten fragt, gerade auch im semantischen Vergleich zu den lateinischen Vorlagen. Yoshiki Koda (S. 231–248) untersucht prophetisches Sprechen und die Vermittlung von Geheimlehren in systematischer und diachroner Perspektive; dabei zeichnet er die rhetorische Konstruktion religiöser Wahrheitsdiskurse in ganz verschiedenen Texttypen nach, vom visionären Verständnis bei Platon und Sokrates über biblische Propheten bis hin zur mittelalterlichen Mystik. Simon Brandl (S. 249–277) untersucht die alchemistische Verhandlung zentraler christlicher Heilsgeheimnisse in Alexander von Suchtens Traktat »De tribus facultatibus« (um 1565), der unter anderem die essentielle Grenzziehung zwischen göttlicher und menschlicher Natur Christi infragestellt und die Menschwerdung in den diskursiven Rahmen von Naturexegese und neuplatonischer Emanationslehre einordnet. Ebenfalls aus dem 16. Jahrhundert stammt die Schrift »Philosophia ad Athenienses« (Ps.-Paracelsus), die, so zeigt Ute Frietsch (S. 279–294), sprachästhetisch durch manieristische Züge gekennzeichnet ist und die Schöpfung im Rückgriff auf die antike griechische Naturphilosophie Platons und Aristoteles’ als alchemistisches System interpretiert. Kristiane Hasselmanns Beitrag (S. 295–319) beschließt den Band mit einer religions- und sozialgeschichtlich perspektivierten Studie zur Aura alten Wissens bei den Freimaurern, zu deren Prinzipien es zähle, die persönliche wie gesellschaftliche Bildung durch Einsichten in verborgenes Schöpfungswissen zu informieren.
Die Vielfalt der gebotenen Untersuchungsgegenstände und die gelungene Intersektionalität der Fragestellungen zwischen Ästhetik und Narratologie ist eine Stärke des Bandes, die sich auch mit Blick auf die Makrostruktur bemerkbar macht: Die Aufteilung der drei Sektionen ist teils nur bedingt nachvollziehbar, viele Beiträge hätten auch anders einsortiert werden können. Dies gereicht dem Band aber nicht zum Nachteil, sondern belegt ganz im Gegenteil den Wert und Nutzen der produktiven Offenheit, der sich die Herausgeberin und der Herausgeber in Zurückweisung etablierter Binäroppositionen verschrieben haben. Die Versprechen der Einleitung werden somit eingelöst: Die Beiträge werfen neues Licht auf das Geheimnis als spezifische Wissensform, auf die diversen Modi seiner ästhetischen Inszenierung sowie auf das epochenübergreifende Schema von Verhüllung und Offenbarung. Gerade dieser Fokus auf Darstellungsstrategien verborgenen Wissens in Verknüpfung mit der weit ausgreifenden diachronen Perspektivierung stellt den Reiz des Ansatzes von Eming und Wels und das große Verdienst des Bandes dar.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Pia Schüler, Rezension von/compte rendu de: Jutta Eming, Volkhard Wels (Hg.), Darstellung und Geheimnis in Mittelalter und Früher Neuzeit, Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2021, 326 S., 12 Abb. (Episteme in Bewegung. Beiträge zu einer transdisziplinären Wissensgeschichte, 21), ISBN 978-3-447-11548-3, EUR 78,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94377