Cécile Vidal hat sich zusammen mit einem Team von fünfzehn Expertinnen und Experten einem anspruchsvollen Projekt gewidmet: Einem Überblickswerk zur Sozialgeschichte des amerikanischen Doppelkontinentes im kolonialen Zeitalter.

Das Vorgehen ihres Teams präsentiert Vidal als wichtige Synthese zwischen zwei Elementen: einerseits den zahlreichen Untersuchungen und Handbüchern, die entweder Nord-, Süd oder Mesoamerika thematisieren, und andererseits den eigenen Forschungsergebnissen der Autorinnen und Autoren. Dabei betont Vidal, dass in ihrem Handbuch bisher vernachlässigte Vergleiche zwischen den drei historiografisch getrennten, amerikanischen Räumen im Zentrum stehen. Die damit verbundene weitgehende Ausblendung transatlantischer Verflechtungen postuliert sie als bewussten Bruch mit dem in der Forschung prägenden Eurozentrismus und einem Beitrag zur Dekolonialisierung der Geschichte.

Dieses Ziel prägt auch die Struktur des Buches, das nach Schlüsselaspekten der Sozialgeschichte und nicht nach Chronologie, Herrschaftsbereichen oder geografischen Räumen gegliedert ist. Diese Schlüsselaspekte werden meist gemeinsam von zwei Autorinnen und Autoren bearbeitet. Dabei nehmen sie die Kategorie »kolonial« nicht als gegeben hin, sondern hinterfragen konsequent, ob und wie Praktiken und Diskurse in den jeweils behandelten Themenbereichen koloniale Ordnungen erschaffen.

Alle Kapitel fokussieren drei soziale Großgruppen und deren Interaktion: Indigene Amerikas, versklavte Afrikanerinnen und Afrikaner, und koloniale Akteurinnen und Akteure, die aus Europa kommend oder in den Amerikas geboren eine gehobene Rolle in Macht- und Gesellschaftsstrukturen einnahmen. Die Relation dieser drei Gruppen wird jeweils in vier Phasen der historischen Entwicklung der Amerikas betrachtet. Erstens die Folgen des Massensterbens der Indigenen durch Infektionskrankheiten, Gewalt oder Vertreibung; zweitens der Aufbau neuer Herrschaftsordnungen; drittens die Verstetigung transatlantischer Vernetzung durch Handel und erzwungene oder freiwillige Migration; viertens die Entstehung revolutionärer Bewegungen um 1800. Damit ist auch der zeitliche Rahmen des Handbuchs gesetzt.

Das erste Kapitel behandelt Migration und Mobilität, sowohl inneramerikanisch, euro-amerikanisch wie auch afrikanisch-amerikanisch. Die Autorinnen und Autoren zeigen insbesondere auf, wie sehr das Erzwingen oder Verhindern von Migration bestimmter Personengruppen den Aufbau kolonialer Ordnungen prägte. Als zweiter Aspekt folgt Arbeit, genauer der Aufbau unterschiedlicher freier und unfreier Arbeitsregime. Dies war, wie überzeugend dargelegt wird, eng mit der Schärfung geschlechtsspezifischer und rassischer Differenzkriterien in den Amerikas verbunden. An dritter Stelle behandeln die Autoren Märkte sowohl im konkreten wie auch abstrakten Sinn. Sie zeigen die erhebliche wirtschaftliche, rechtliche und soziale Bedeutung von Märkten für die Beziehung der oben genannten Akteursgruppen ebenso auf wie deren Wirkung als Inklusions- und Exklusionsorte. Hierbei wird auch deutlich, wie europäische Leitvorstellungen von Monopolen und Merkantilismus auf lokale Gegebenheiten trafen und ungeplant neue Strukturen hervorbrachten. Das vierte Kapitel behandelt Landnahme und Grundbesitz als Mittel zur Etablierung lokaler Führungsschichten und zugleich zur Marginalisierung besitzloser Gruppen. Es folgt ein Kapitel über Familienstrukturen und das nummerische, rechtliche und soziale Verhältnis der Geschlechter. Auch hier lässt sich erkennen, wie europäische Konzepte wie die christliche Ehe als Leitvorstellungen die neuen Gesellschaften prägten. Doch auch die Implementierung dieses Ideals stieß vor Ort immer wieder an seine Grenzen. Im fünften Kapitel folgt das Themenfeld »Religion«, genauer die konfessionell unterschiedliche Kirchenorganisation. Deren erheblicher Einfluss auf andere soziale Ordnungsformen wie Grundbesitz, Familie und auch Wirtschaft wird durch viele Beispiele verdeutlicht. An vorletzter Stelle stehen »Recht und Justiz«. Die Autorinnen und Autoren zeigen, dass Recht in kolonialen Räumen auf Ungleichheit basierte, sowohl exkludierend als auch inkludierend wirkte und gleichermaßen Freiheit wie Unfreiheit hervorbrachte. Das letzte Kapitel des Hauptteils führt schließlich unter dem Begriff »Soziale Ordnung« unterschiedliche Hierarchiebildungen sowie Mechanismen der Inklusion und Exklusion zusammen, welche den Umgang der drei zentralen Personengruppen prägten. Zusätzliche Aufmerksamkeit gilt hier den in anderen Kapiteln eher wenig beachteten interkulturellen Akteurinnen und Akteuren.

Ein Synthesekapitel führt die Befunde des Hauptteils zusammen und bekräftigt, dass die sogenannte hemisphärische Perspektive der Untersuchung eine Reihe von Gemeinsamkeiten der untersuchten Gesellschaften herausstellen konnte. Tatsächlich verweisen alle Kapitel auf asymmetrische Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie ein Wechselspiel von importierten europäischen Leitvorstellungen mit lokalen Realitäten. Dabei sind jene Gegebenheiten vor Ort keineswegs statisch zu verstehen, sondern erwiesen sich als Resultat dreier verflochtener Migrationen, der transatlantischen aus Europa und Afrika sowie der innerkontinentalen. Wiederholt konnten die Autorinnen und Autoren aufzeigen, dass die importierten Ideal- und Ordnungsvorstellungen zwar einerseits auf einer diskursiven Ebene erhebliche Langlebigkeit aufwiesen, während jedoch andererseits die Praxis weitaus vielfältiger und hybrider war. Bei allen Unterschieden trugen allerdings alle untersuchten Phänomene zu einer Ausbeutung und Ausgrenzung Indigener und verschleppter afrikanischer Akteure bei. Insgesamt zeichnet das Werk somit ein kontrastreiches Bild der kolonialen amerikanischen Gesellschaften zwischen 1500 und 1800.

Insgesamt haben die Autorinnen und Autoren um Cécile Vidal ein ebenso innovatives wie informatives Überblickswerk vorgelegt, das auf interessante Weise eurozentrische Perspektiven durchbricht. Es bleibt aber zu überlegen, ob eine konsequentere Einbeziehung transatlantischer Wechselwirkungen nicht ein tieferes Verständnis ermöglichen würde. Wie alle Überblickswerke ist es zur Kürze verpflichtet und weist daher gewisse Lücken auf, die vornehmlich in Bezug auf Nordamerika auffallen. Dies ist aber kein wirklicher Mangel, da alle übergreifenden Schlussfolgerungen trotzdem nachvollziehbar sind. Eine spürbare Leerstelle besteht lediglich in Bezug auf die Quellenbasis, denn leider sind die unterschiedlichen Überlieferungen zu den einzelnen Phänomenen und Gesellschaftsgruppen nur selten Thema. Abschließend sei noch gesagt, dass dieses Handbuch implizit auf ein weiteres Desiderat hinweist, das in eben solch einer Qualität noch zu bearbeiten wäre: Eine Analyse zur Bedeutung inneramerikanischer speziell interkolonialer Verflechtungen für Aufbau und Entwicklung der kolonialen Wirtschafts- und Sozialordnungen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jan Simon Karstens, Rezension von/compte rendu de: Cécile Vidal (dir.), Une histoire sociale du Nouveau Monde, Paris (Éditions de l’EHESS) 2021, 344 p. (En temps & lieux, 107), ISBN 978-2-7132-2898-8, EUR 24,80., in: Francia-Recensio 2023/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94379