Die Idee zu diesem Werk klingt gleich in mehrfacher Hinsicht charmant. Der Hennegau ist zwar als Region großer Musiker des 15. und 16. Jahrhunderts schon häufig Gegenstand musik- wie kulturhistorischer Forschung gewesen1 – man denke an Josquin des Prez, Orlando di Lasso, Claude le Jeune –, für das 17. und 18. Jahrhundert klaffte hier jedoch bislang eine Lücke. Aufgrund ihrer komplizierten Teilungsgeschichte, ihres geringen ökonomischen Gewichts und der Abwesenheit von Universitäten fällt die Region gleichermaßen musik- wie kulturgeschichtlich im 17. und 18. Jahrhundert durch die Wahrnehmungsraster der Forschung. Diesen Status einer kulturgeschichtlichen und musikwissenschaftlichen Leerstelle möchten der Herausgeber und die Herausgeberin ändern. Dass Zeit und Raum ein dankbares Sujet darstellen, ist nach der Lektüre eindeutig: Die Musikwissenschaftlerin Brigitte Van Wymeersch und der Musikwissenschaftler und Sozialhistoriker Fañch Thoraval haben einen großzügig bebilderten, sehr lesbaren, gewaltigen Band von 500 Seiten zu Wege gebracht, der äußerst neugierig macht. In einem »Prologue« arbeitet Wymeersch noch etwas anderes heraus. In einer ganzen Phalanx von Fragen bündelt sie als Ziel des Bandes zu erforschen, wie Musik in dieser Region funktionierte, wo und wie sie entstand, zirkulierte, welche Netzwerke sie etablierte und wer ihre Akteure waren: »Cette région présente donc de nombreuses particularités qui valent la peine d’être interrogées sous l’angle musical« (S. 13). Man kann ihr nach der Lektüre nur zustimmen, doch bleibt die Antwort auf die große Frage, nämlich die nach der Beziehung zwischen den Besonderheiten des Raumes, wozu auch die politikhistorischen Zäsuren innerhalb dieser beiden Jahrhunderte zählen, und den Entstehungsumständen von Musik in den meisten Beiträgen vage. Auch eine Einordnung der Erkenntnisse durch die beiden Herausgeber in den von Wymeersch gewählten Erklärungsrahmen, z. B. als Einleitung oder Kommentar, sucht man vergebens. Umso mehr muss man sich auf die bunte Zusammenstellung einlassen, die durch viele Überschneidungen der Beiträge implizit durchaus vermittelt, warum die Darstellung der reichen Musiktradition dieses im europäischen Vergleich so untypischen Raums viel über die Möglichkeiten frühneuzeitlicher Musik im allgemeinen sagen kann. Die oft angenommene Verbindung gewisser struktureller Voraussetzungen für die Entfaltung musikalischer Tradition wird durch die Lektüre deutlich relativiert. Auch abseits der als musikalischen Zentren bekannten großen Höfe gibt es viel zu entdecken.

In drei großen Sektionen wird die Musik des Hennegau verhandelt: den politischen, den religiösen und den sozio-ökonomischen Räumen. Jeder dieser drei Teile umfasst wiederum acht Unterkategorien, die ambitioniert soziale Schichten, Berufsgruppen, oder Produktionswege durchschreiten. Ein Personen- und ein Ortsregister beschließen den Band und lassen insbesondere im Personenregister viele Synergien der Beiträge nachvollziehen (man vgl. »André-Ernest-Modeste Grétry«; »Pierre-Louis Pollio«).

Die Aufteilung der Beiträge im Dreieck Politik, Religion und Wirtschaft ist vor allem in den einleitenden Ausführungen des emeritierten Historikers Philippe Guignet durchgehalten, mit denen jede der drei Sektionen beginnt. In den einzelnen Aufsätzen bricht die Einteilung zu Recht immer wieder auf. Wenn der Historiker Emmanuel Joly in seinem Beitrag zur zweiten Sektion, den »Espaces religieux«, der kunstvollen Entwicklung der Chorschranken im 17. Jahrhundert nachgeht, betont er die politische Komponente. Auftraggeber waren die Kommunen, die damit ihren Führungsanspruch im religiösen Raum in Stein und Holz meißelten und den politischen gewissermaßen in den religiösen Raum schachtelten (bes. S. 210). Der erste Beitrag des Herausgebers Fañch Thoraval – er ist Beiträger von zwei, Mitbeiträger von vier Aufsätzen des Bandes – ist der Sektion zu politischen Räumen, den »Espaces politiques«, zugeteilt. Darin erklärt Thoraval die außergewöhnliche Musikbibliothek des Charles de Croÿ als Mittel sozialer Distinktion (bes. S. 62), was mindestens ebenso gut, wenn nicht gar besser in die dritte Sektion, die »Espaces socio-économiques«, passen würde. Doch was als Makel erscheinen mag, ist im Grunde seine große Stärke: die herrlich konsequente Interdisziplinarität des Bandes. Er versammelt Forschungen aus Geschichte, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Archäologie, Theaterwissenschaft, Tanzwissenschaft, Literaturwissenschaft, Organologie und der historisch informierten Aufführungspraxis im Blick auf die Musik des Hennegau. Ihre Vertreterinnen und Vertreter arbeiten teils mehrfach im Team und schauen gern über den disziplinären Tellerrand hinaus. So ergänzt der Beitrag von Jean-Charles Léon zur Aufführungspraxis der Stiftskirche Saint-Vincent den erwähnten Beitrag Jolys vortrefflich, indem die tatsächliche Nutzung der Chorschranken durch Graffiti der Chorknaben belegt wird (S. 260). Allein acht Teambeiträgen und vier Beiträgen, die im Verbund, aber mit namentlich gekennzeichneten Abschnitten entstanden, stehen fünfzehn Einzelbeiträge gegenüber. Das sind erstaunliche Zahlen. Oft, aber nicht immer, schöpfen die Beiträger aus dem Vollen ihrer geteilten Expertisen. Manuel Couvreur und Jean-Philippe Huys vereinen mit gleich drei Beiträgen zur Sektion der politischen Räume in personis die Disziplinen Musikwissenschaft, Komparatistik, Kunstgeschichte, finden ihren gemeinsamen Nenner aber eher zwischen politischer und Kulturgeschichte. Das führt z. B. in der Parallelität der Musikförderung der Brüder Joseph Clemens von Bayern als Erzbischof von Köln und Max Emanuel von Bayern (S. 73–81) zu anregenden Perspektiven, doch das phantastische Bildmaterial ihrer drei Beiträge wird bis auf eine letzte Notiz zu Antoine Watteaus Gemälde von 1710/1711 »La Halte« (S. 117) nicht mit ihren Texten verankert. Mit anderen Beiträgern teilen sie das Problem, relativ unerforschtes Terrain zu betreten. Vorsichtige, hypothetische Formulierungen finden sich im gesamten Band häufig, nicht aber beispielsweise im Beitrag Laurent Guillos, der den quellentechnischen Glücksfall regionaler Begrenzung anhand der wenigen Musikdrucke aus Valenciennes sehr konkret nachzeichnet und verortet, oder in der mikrohistorischen Studie des Musikwissenschaftlers Louis Delpech, der in seinem Beitrag nachweist, wie zwei Operntruppen auf der Achse Frankreich-Sachsen den Hennegau immer wieder als zentralen Formationsraum nutzen: »il s’agit d’une centralité d’un tout autre type que celle généralement attachée à l’idée de capitale culturelle. Paradoxale et éphémère, cette centralité profite des flux de musiciens allant d’une capitale à une autre et se présente davantage sous la forme d’un nœud de circulation que sous celle d’institutions stables et puissantes« (S. 504). Hier scheint auf, warum das von Wymeersch formulierte Desiderat, die kulturellen, politischen und sozialen Besonderheiten dieser Region mit seiner Musikgeschichte in Verbindung zu setzen, ein wirklich lohnender Ansatz ist. Man kann nur hoffen, dass der Grundstein, den dieser Band zweifellos gelegt hat, gesehen und genutzt wird.

1 Vgl. beispielhaft Margaret McGowan, Margaret Shewring (Hg.), Charles V, Prince Philip and the Politics of Succession. Imperial Festivities in Mons and Hainault, 1549, Turnhout 2020.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Elisabeth Natour, Rezension von/compte rendu de: Fañch Thoraval, Brigitte van Wymeersch (dir.), La musique en Hainaut aux XVIIe et XVIIIe siècles, Turnhout (Brepols) 2021, 569 p., 212 ill. en coul. (Épitome musical), ISBN 978-2-503-59834-5, EUR 125,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94395