Eine insgesamt mehr als 1000-seitige Studie in zwei Bänden über einen heute nur noch Fachleuten bekannten Skandal im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts – muss das sein? Diese Frage dürften sich vor allem diejenigen stellen, die vom sogenannten Jetzerhandel und den anschließenden Prozessen bislang wenig gehört haben. Neuere monografische Arbeiten zu dieser Auseinandersetzung, die im negativen Sinne einen Höhepunkt der im Spätmittelalter heftig geführten Kontroverse um die Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariens bildet, fehlten, wie Utz Tremp in ihrer ausführlichen Einleitung zeigt. Dabei sind die Voraussetzungen für eine umfassende Aufarbeitung eigentlich ideal: Die Prozessakten wurden bereits 1904 von Rudolf Steck herausgegeben, polemisches Material, das das Geschehen um das Berner Dominikanerkloster skandalisierte und in eine breitere Öffentlichkeit trug, liegt teils in neueren Editionen, teils gut zugänglich in zeitgenössischen Drucken vor. Zumindest aus damaliger Sicht war obendrein offenkundig, dass es sich um eine relevante Materie handelte. Nicht nur war der Streitgegenstand bedeutsam in theologischer Hinsicht, obendrein betraf er direkt die Frömmigkeitspraxis, nämlich die Marienfrömmigkeit und die um 1500 intensiv gepflegte Annenverehrung. Zudem erlitt das Ansehen der Dominikaner durch die Affäre im Heiligen Römischen Reich und in der Eidgenossenschaft schweren Schaden. Schließlich hatten die Berner Geschehnisse – darin dem Reuchlinkonflikt wenige Jahre später vergleichbar – ein überregionales publizistisches Echo durch die Erprobung von Invektiv- und Agitationstechniken, die in den frühen Jahren der Reformation mit ungleich größerer Wirksamkeit wieder zum Einsatz kommen sollten.
Ihre Darstellung strukturiert Utz Tremp anhand des Jetzerhandels und der anschließenden Prozesse, die am 23. Mai 1509 mit der Verurteilung des Priors des Berner Dominikanerkonvents, Johann Vatter, dem Lesemeister Stephan Boltzhurst, dem Subprior Franz Ueltschi und dem Schaffner Henrich Steinegger endeten. Die vier Männer wurden öffentlich degradiert und dem weltlichen Arm übergeben. Acht Tage später wurden sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ihnen war ein religiöser Betrug nachgewiesen worden, der die Lehre diskreditieren sollte, Maria sei ohne Erbsünde empfangen worden. Dazu hatten sie Anfang 1507 dem Konversenbruder Hans Jetzer zunächst eine Geistererscheinung vorgespielt. In mehreren Nächten wurde Jetzer vermeintlich vom Geist eines früheren Priors aufgesucht, der in Paris bei einer Schlägerei gestorben sei. Der Geist nutzte die Gelegenheit, unter anderem ausführlich die dominikanische Observanz zu preisen – eine Position, die Utz Tremp zufolge verdächtig derjenigen des Berner Konvents ähnelte. Auch auf die Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariens kam die Erscheinung zu sprechen, allerdings in so knapper und missverständlicher Form, dass der Lesemeister Boltzhurst intervenieren musste, da Jetzer geglaubt hatte, der Geist habe sich gegen die dominikanische Ansicht ausgesprochen. Zu den Absurditäten der Affäre gehört, dass die Berner Dominikaner selbst in ihrem »Defensorium«, einer zentralen Quelle zum Jetzerhandel, dieses Missverständnis ebenso dokumentierten wie ihre Versuche, es nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Als die inkohärente Textsammlung in die Hände eines unbekannten Gegners geriet, gab dieser das verfängliche Material Anfang 1508 eilends im Druck heraus. Eine rasch nachgeschobene deutsche Übersetzung diskreditierte die Berner Dominikaner zusätzlich. Allgemein bekannt wurde so, dass dem lange Zeit arglosen Jetzer auch Maria selbst erschienen war. Seine Brüder hatten ihn mit einem Fragekatalog präpariert, den er ihr vorlegen sollte. So habe man vermeintlich aus erster Hand erfahren, dass Maria mit der Erbsünde empfangen worden sei. Wunder häufte sich auf Wunder, bis Jetzer im Herbst 1507 schließlich dabei ertappt wurde, selbst als Maria verkleidet dem Lesemeister und dem Subprior bei ihrer Abreise nach Rom den Segen gespendet zu haben. Er wurde vor den Berner Rat bestellt und verhaftet. Bei den anschließenden Verhören kam der ganze Betrug ans Licht.
Nachdem sie die Geschehnisse im Berner Konvent anhand des »Defensiorium« dargestellt hat, widmet sich Utz Tremp im zweiten Teil der Arbeit minutiös den in Lausanne und Bern geführten Prozessen. Die Frage der unbefleckten Empfängnis, Anlass des Betrugs, spielte dabei keine wesentliche Rolle, stattdessen wurden den Berner Dominikanern insbesondere Häresie und die Verleugnung Gottes zur Last gelegt. Neben einer akribischen Rekonstruktion des Prozessgeschehens beschäftigt die Autorin die Frage, wer an der ganzen Angelegenheit schuld gewesen sei – ein Thema, das die Forschung bereits seit dem 19. Jahrhundert diskutiert. Dem Rezensenten erscheint die Schuldfrage für uns Heutige weniger relevant als der Autorin, spannend dagegen ist, wie Utz Tremp die Inspirationsquellen des Betrugs der Konventsvorsteher ermittelt: Demnach orientierten sich diese inhaltlich am »Mariale« des Franziskaners Bernardin de Bustis und am »Dialogus apologeticus« des Dominikaners Wigant Wirt, einer zwischen 1503 und 1505 entstandenen, gegen die Immakulisten gerichteten Polemik.
Deutlich wird, dass sich in der Affäre verschiedene Dimensionen überkreuzten, die ihr erst ihr besonderes Gepräge verliehen: Die Dominikaner sahen sich in Konkurrenz mit den Franziskanern, und in der Frage der unbefleckten Empfängnis waren sie spürbar in die Defensive gedrängt. Im Prozess zeigte sich, dass auf dem Provinzkapitel in Wimpfen 1506 der Plan entwickelt worden war, durch Betrug die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die konkreten Interessen des Berner Konvents und seiner Unterstützer verbanden sich mit religiösen Überzeugungen, die eine theologische Kontroverse speisten, in der sich die beiden großen Bettelorden gegenüberstanden, an der sich aber auch namhafte Humanisten wie Sebastian Brant oder Johannes Trithemius beteiligten. Die Berner Dominikaner wussten, was die Gläubigen erwarteten, weshalb sie Ende Juni 1507 eine Marienstatue in ihrer Kirche weinen ließen, um so die Jetzer zuteilgewordenen vermeintlichen Offenbarungen bekannt zu machen. Seine Autorität sollte durch Stigmata weiter gestärkt werden. Die Dominikaner vertrauten offenbar darauf, durch Auftürmen einander bestätigender Zeichen Glaubwürdigkeit zu erzeugen, sahen sich jedoch alsbald mit jenen Zweifeln an derartigen Wundern konfrontiert, die ebenso zeittypisch waren wie der Wunderglaube selbst. Widerstreitende Motivlagen verkomplizierten das Bild: Die zuständigen Bischöfe von Lausanne und Sitten hatten ebenso eigene Interessen wie die Stadt Bern. Rechtliche Vorgaben beschränkten den Handlungsspielraum der Akteure. Neue publizistische Möglichkeiten führten zu einem weit überregionalen Nachspiel, das Utz Tremp im letzten Teil ihrer Arbeit neben den regionalen Folgen leider vergleichsweise kursorisch behandelt. Gerade die skizzierte Entwicklung »Vom Jetzerhandel zur Reformation«, so der Titel des letzten Teilkapitels der Studie, verdiente jedoch eine ausführlichere Untersuchung.
Die eingangs gestellte Frage ist am Ende der Lektüre zu bejahen: Es ist sehr begrüßenswert, dass nun eine umfangreiche, akribisch gearbeitete, ausgesprochen kenntnisreiche Arbeit zu Jetzerhandel und -prozessen vorliegt, an die sich künftige Forschung gerade hinsichtlich der verlässlich aufbereiteten Details bedenkenlos halten kann. Mitunter wünscht man sich etwas mehr Leserfreundlichkeit: Dazu gehören Zusammenfassungen der einzelnen Teile, die vom dargebotenen Material entschlossener abstrahieren; auch kurze Biogramme der Protagonisten hätten die Orientierung erleichtert. Einige Kürzungen wären zudem durchaus möglich gewesen. Stilistisch ist die Arbeit solide gestaltet, größere Varianz wäre der Konzentration des Lesers aber zuträglich gewesen. All diese Einwände fallen aber kaum ins Gewicht angesichts einer Studie, die unsere Kenntnis der Affäre um Hans Jetzer und die Berner Dominikaner auf eine ganz neue Stufe hebt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jan-Hendryk de Boer, Rezension von/compte rendu de: Kathrin Utz Tremp, Warum Maria blutige Tränen weinte. Der Jetzerhandel und die Jetzerprozesse in Bern (1507–1509), Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2022, 1057 S. (Monumenta Germaniae Historica. Schriften, 78, 2 Bde.), ISBN 978-3-447-11647-3, EUR 165,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94396