Unter Napoleons Regierung entstanden in Frankreich mehrere kaiserliche Bibliotheken, die die französische Bibliothekslandschaft im 19. Jahrhundert nachhaltig bereicherten, später untergingen wie das französische Kaisertum selbst oder bis heute als museale Gedächtnisorte fortbestehen. Sie verdankten sich dem Willen Napoleons und der Leistung seiner Bibliothekare und waren Ausdruck des napoleonischen Herrschaftsverständnisses und Regierungsstils. Der vorliegende Band beschreibt Entstehung und Entwicklung dieser Bibliotheken über das Erste Kaiserreich hinaus, würdigt detailliert die Rolle der verantwortlichen Bibliothekare und führt Napoleon als unermüdlichen und eigenwilligen Leser vor Augen.
Es ist hinreichend bekannt, dass Napoleon ein Viel- und Schnellleser war. Bücher, Zeitungen und Karten umgaben ihn nicht nur in seinen Residenzen, sondern begleiteten ihn auch auf Reisen und Feldzügen, um jederzeit benötigte Informationen zur Hand zu haben, aber dienten ebenso zur Ablenkung und Unterhaltung. Er las historische Werke, Biografien großer Persönlichkeiten, Schriften der bedeutenden Literaten und Philosophen seiner Zeit ebenso wie Trivialromane. Er besaß ein breites jedoch oberflächliches Wissen, dafür allerdings ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Um seinen Lektürebedarf zu befriedigen, ließ er sich in allen seinen Residenzen kleine private Arbeitsbibliotheken einrichten, neben wenigen großen repräsentativen Bibliotheken, die auch anderen Personen zur Verfügung standen. Unterwegs begleitete ihn stets eine tragbare Reisebibliothek, die je nach Anlass neu zusammengestellt wurde. Als Kaiser verstand er sich als Mäzen, der Luxusausgaben finanzierte, war aber ansonsten keineswegs bibliophil veranlagt. Vial referiert überlieferte Situationen, in denen Napoleon für ihn uninteressante Bücher ins Kaminfeuer seines Arbeitszimmers oder auf dem Rückzug aus Russland aus der fahrenden Kutsche werfend entsorgte. Bücher waren für ihn Mittel zum Zweck: Sie dienten der Regierungsausübung, der Planung militärischer Kampagnen, dem Prestige und der Unterhaltung.
Als Napoleon zum ersten Mann im Staat aufstieg, befand sich Frankreichs Bibliothekslandschaft im Umbruch. Die revolutionären Konfiszierungen adliger und geistlicher Bibliotheken hatten große Bücherdepots angefüllt, aus denen neue staatliche Bibliotheken bestückt wurden, darunter die Bibliothek des Conseil d’État für die neue politische Führungselite. Napoleons Ansprüchen genügte diese mehr auf einen klassischen Bildungskanon denn auf Politik, Wirtschaft und Geschichte ausgelegte Sammlung jedoch nicht. Als Erster Konsul ließ er sich deshalb direkt nach seinem Einzug in die Tuilerien eine eigene Bibliothek einrichten. Er betraute damit Louis-Madeleine Ripault, der ihm bereits während der Ägyptenexpedition als Bibliothekar des Institut d’Égypte gedient hatte. Von 1800 bis 1807 war Ripault als Napoleons »bibliothécaire particulier« dafür zuständig, diesen mit Büchern zu versorgen und neue Bibliotheken in den ab 1804 kaiserlichen Residenzen auszustatten. Doch weit darüberhinausgehend näherte sich die Position des Bibliothekars, der zu Napoleons engem Umfeld gehörte, der Funktion eines Beraters und Sekretärs an, mitunter eines Hofhistoriografen und Pamphletisten. So zählte zu Ripaults Aufgaben auch, für Napoleon Zusammenfassungen älterer und jüngerer Literatur zu erstellen, ihm über Neuerscheinungen und den Inhalt der Tagespresse zu berichten, er schrieb sogar selbst kurze Propagandatexte für die Presse. Für die Vorbereitung politischer Entscheidungen, von Reisen und Feldzügen recherchierte er geografische, historische, politische und statistische Informationen. So besorgte er dem Kaiser im Dezember 1805 – wenige Monate, bevor Napoleon seinen Bruder Louis als König von Holland einsetzte – über 200 Werke über die Niederlande, später zur Planung des Feldzugs gegen Preußen alle greifbare Literatur über die preußische Armee, die Ressourcen und die administrative Organisation der betroffenen Territorien und Städte, sogar Werke über die Mentalität der Einwohner. Als Ripaults Rolle an Bedeutung einbüßte, zog er sich ins Private zurück. Auf ihn folgte Antoine-Alexandre Barbier, der bis dahin Konservator der Bibliothek des Conseil d’État war und sich Ansehen als Bibliograf erworben hatte. Nach dem Sturz des Kaiserreichs schloss er sich dem neuen Regime an, wurde nach Napoleons Rückkehr nochmal dessen Bibliothekar, überstand aber auch den folgenden Machtwechsel ohne großen Schaden.
Vial widmet sich umfassend der Tätigkeit der beiden Bibliothekare, nicht nur mit Blick auf ihren Dienst bei Napoleon, sondern vor allem bei der Organisation der Bibliotheken. Dies betrifft die Sammlungen in Malmaison und Saint-Cloud, in Versailles, Trianon, Rambouillet, Compiègne und Fontainebleau. Neben den »grandes bibliothèques« in den beiden letztgenannten Residenzen, die auch dem Hofstaat, Regierungsmitgliedern und Gästen offenstanden, waren die »petites bibliothèques«, »cabinets de travail« oder »bibliothèques particulières« private Orte der Arbeit und Lektüre, deren Nutzung dem Kaiser vorbehalten war. Daneben wollte Napoleon die damals im Louvre existierende Bibliothek zu einer zentralen Gedächtniseinrichtung ausbauen, angereichert durch Pflichtexemplare aus Frankreich und beschlagnahmte Bücher aus den eroberten Ländern. Das Projekt veranschaulicht seinen Anspruch, Paris zum kulturellen und intellektuellen Zentrum Europas zu erheben, wurde aber nie ganz realisiert. Hinter diesem und den anderen Bibliotheksprojekten stand ein enzyklopädisches Wissensideal und die Suche nach Monumentalität, was sich auch in seinem Herrschaftsverständnis widerspiegelte. Als Napoleon schließlich gestürzt wurde, plante er noch beim Abzug aus Paris den Aufbau einer neuen Bibliothek an seinem Exilort auf Elba. Vergeblich versuchte er, mit den Siegermächten die Herausgabe seiner Arbeitsbibliotheken aus den Tuilerien und Saint-Cloud zu verhandeln, musste jedoch eine Bibliothek durch Ankäufe und mit Hilfe loyaler Mittelspersonen neu aufbauen. Anders bei seinem letzten Exil auf St. Helena. Diesmal durfte er einen Teil seiner Bücher behalten, war aber von der Anzahl von nur 1800 enttäuscht. Die englische Regierung und Besucher versorgten ihn spärlich mit Büchern, die er unter anderem für das Verfassen seiner Memoiren verwendete.
Was ist bis heute von all dem geblieben? Bücher aus Napoleons Besitz faszinierten schon seine Zeitgenossen. Zu seinen Lebzeiten vermittelten sie das Bild des aufgeklärten und rastlos arbeitenden Kaisers, nach seinem Tod wurden sie zu Reliquien einer untergegangenen Heldenepoche Frankreichs. Blüchers Preußen erbeuteten 1814 Napoleons Bücher als Trophäen, bis heute sind Bände mit dem imperialen Wappen regelmäßig im Handel zu finden. Die Bibliotheken wurden wie die ehemaligen kaiserlichen Residenzen bald zu Orten der Geschichtserinnerung und -verklärung. Bereits in den 1820er-Jahren tauchten sie in den Reiseführern für das Pariser Umland auf. Historiker und Biografen standen früh im Austausch mit Louis Barbier, dem Sohn des Bibliothekars, der eine Kurzbiografie seines Vaters und dessen Briefe herausgab. Dabei endete die Geschichte der Bibliotheken Napoleons keineswegs mit dem Sturz des Kaisers. Zwar überdauerten nicht alle Sammlungen – die Bücher aus St. Helena beispielsweise wurden 1823 versteigert, jene aus Malmaison 1829 – doch viele Bibliotheken bestanden als königliche oder kaiserliche Bibliotheken unter den nachfolgenden Regimen fort oder wurden für die Öffentlichkeit geöffnet. Die Bibliothek des Staatsrats fusionierte mit denen mehrerer Paläste zu einer neuen Bibliothèque du Roi, die im Louvre untergebracht war und zu den bedeutendsten Pariser Bibliotheken im 19. Jahrhundert zählte – bis sie ebenso wie die Bibliotheken in den Tuilerien und in Saint-Cloud 1870/1871 Opfer der Flammen wurde. Was daraus gerettet werden konnte, wurde an die Bibliotheken Sainte-Geneviève, Mazarine und Arsenal verteilt, die heute zusammen mit der Nationalbibliothek die größten Restbestände aus diesen untergegangenen Bibliotheken aufweisen. Auf Elba besitzt die Villa dei Mulini heute noch einen Teil der Bibliothek aus Napoleons Exil. Am vollständigsten erhalten sind jedoch die »grande bibliothèque« und die »bibliothèque particulière« im Schloss von Fontainebleau. Ab dem Ende des Zweiten Kaiserreichs und bis 1924 fungierten sie als öffentliche Leihbibliotheken, wurden dann geschlossen und erst im Jahr 2000 im Zuge der Reorganisation des Museums wieder zugänglich gemacht, 2021 restauriert. Damit war der Prozess der Musealisierung der letzten großen kaiserlichen Bibliothek pünktlich 200 Jahre nach Napoleons Tod abgeschlossen.
Mit dem Ausblick in die Gegenwart endet eine fundiert recherchierte und gut lesbare Darstellung, die von soliden Kenntnissen der Bibliotheksgeschichte und einer ebenso souveränen Vertrautheit mit der französischen Geschichte zeugt. Vial ist Konservator an der Französischen Nationalbibliothek und ein produktiver Autor, der innerhalb weniger Jahre bereits mehrere Werke zum Ersten Kaiserreich und Napoleon publiziert hat. Der vorliegende Band ist trotzdem nicht einfach ein weiteres Buch über Napoleon, sondern genauso eine gelungene Studie über Bibliotheken und ihre Bedeutung im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sven Ködel, Rezension von/compte rendu de: Charles-Éloi Vial, Napoléon et les bibliothèques. Livres et pouvoir sous le Premier Empire, Paris (CNRS Éditions) 2021, 368 p., ISBN 978-2-271-11688-8, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94397