Jeffrey R. Watt ist Senior Professor für Geschichte an der University of Mississippi. Vorherige Studien seinerseits thematisierten bereits Einzelaspekte der frühneuzeitlichen Sozialdisziplinierung und der Reformation Johannes Calvins in Genf. Darüber hinaus hat Watt die Bände 6–15 der »Registres du Consistoire de Genève au temps de Calvin« (2012–2021) mit seiner Frau Isabella M. Watt, die bereits früher in die Editionsarbeiten eingebunden war, herausgegeben. Auf den »Registres du Consistoire« stützt sich maßgeblich das nunmehr vorliegende Buch über das Genfer Konsistorium und dessen Sozialdisziplinierung zur Zeit der Reformation Calvins. Neben den archivarischen Manuskripten des Genfer Konsistoriums werden unter anderem auch die »Registres« der Stadträte und Prozessakten als Quellen im Buch berücksichtigt.
Leitend bleibt über knapp 230 Seiten die inhaltliche Fragestellung, warum und auf welche Weise das Genfer Konsistorium zu einem geschichtsträchtigen Erfolgsmodell für die frühneuzeitliche Sozialdisziplinierung werden konnte. So betont der Autor gleich am Anfang: Vergleichbar noch mit dem antiken Athen oder dem Florenz der Renaissance, habe sonst kaum ein anderer Stadtstaat als Genf einen solch großen kulturellen Einfluss entfaltet, der die eigene politische, militärische und wirtschaftliche Kraft gänzlich in den Schatten stellte (S. 1). Das Genfer Konsistorium war gleichwohl kein Einzelfall. Es existierten reformierte Vorläufer wie z. B. das Zürcher Ehegericht (seit 1525) und das Berner Chorgericht (seit 1528). Eine entscheidende Besonderheit in Genf war vor allem die größere Anzahl an Pastoren im Konsistorium gegenüber den reformierten Vorläufern und schließlich auch der dominierende Einfluss des Genfer Reformators Johannes Calvin (S. 7). Dieser Einfluss stand allerdings zunächst in Frage. Im Disput über das Exkommunikationsrecht der Pastoren im Konsistorium konnte sich Johannes Calvin 1538 mit seinem Vorgänger und Weggefährten in Genf, Guillaume Farel, noch nicht durchsetzen. Sie mussten Genf verlassen. Erst nach Calvins Rückkehr im Jahr 1541 wurde das Konsistorium zu einer einflussreichen Institution in Genf. Es bestand aus 12 Vertretern aus den drei Räten der Stadt (25-köpfiger Kleiner Rat, Rat der Sechzig und Großer Rat der Zweihundert) und den Pastoren. Da aber bei einem Treffen nur etwa die Hälfte der 12 Vertreter der Räte anwesend war, war die Zahl gegenüber den Pastoren relativ ausgeglichen (S. 6). Das Konsistorium tagte in der Regel einmal pro Woche und wurde von einem der vier Bürgermeister der Stadt, Syndiques genannt, geleitet. Es befasste sich mit einer Vielzahl religiöser Angelegenheiten und Fällen, in denen es um die Lebensführung Genfer Bürger ging. Watt betont, dass theologische Auseinandersetzungen eher die Ausnahme blieben. So taucht die Prädestinationslehre als Eigenart calvinistischer Lehren auch erst spät, Anfang der 1550er-Jahre, im Zusammenhang mit der Bolsec-Affäre in den Verzeichnissen des Genfer Konsistoriums auf (S. 41). Der weit überwiegende andere Anteil der Fälle, die vor das Konsistorium kamen, hatte mit dem gelebten Glauben, der Moral und Lebensführung zu tun. Vor allem diesen einzelnen Themen der sogenannten »Kirchenzucht« geht Watt in insgesamt sieben Kapiteln nach.
In Kapitel 1 wird zum Thema, auf welche Widerstände das Konsistorium in Genf und seiner Umgebung traf. Dabei stand nicht selten auch die Person Calvin im Mittelpunkt der Kritik (S. 37). Erst das Jahr 1555 markierte einen entscheidenden Wendepunkt zugunsten des Genfer Konsistoriums und Calvins (S. 28f., 220), nachdem Ami Perrin und seine Anhänger (»Perrinisten«) als erbitterte Gegner auf Grund eines Aufstandes aus der Stadt fliehen mussten, verhaftet oder zum Tode verurteilt wurden. Der politische Einfluss hatte sich zugunsten Calvins gedreht. Ein wesentlicher Faktor war dabei der Zustrom von Glaubensflüchtlingen in die Stadt (S. 22–24).
Bemühungen um die religiöse Einheit blieben aber eine ständige Aufgabe für Calvin und das Genfer Konsistorium, wie Kapitel 2 der Studie unterstreicht. Dies zeigt der Umgang mit Fällen von Blasphemie, Häresie, falscher Prophetie, vermisster Abgrenzung gegenüber den alten katholischen Bräuchen, fehlender Einübung reformierter Grundsätze oder ungenügendem Gottesdienstbesuch, die vor das Konsistorium kamen. Sensibel arbeitet Watt hier auch Unterschiede zwischen Männern und Frauen heraus. Letztere hätten sich bei der Aufgabe katholischer Traditionen wie der Marienanbetung oder bestimmter Weihnachtsbräuche schwerer getan (S. 67). Das Konsistorium hatte in diesen Fällen keine rechtssprechende Gewalt und war bei Sanktionierungen immer auf die staatliche Seite angewiesen. Es konnte zur Besserung ermahnen und (unumstritten erst später) vom Abendmahl ausschließen. Weitere Sanktionierungen blieben aber dem Kleinen Rat bzw. den Bürgermeistern vorbehalten.
In einem Bereich aber schien das Konsistorium dann doch in das Maß von Bestrafungen einzugreifen, und das war die religiöse und moralische Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Dies arbeitet Watt scharfsinnig in Kapitel 3 seines Buches heraus. Durch die Anempfehlung körperlicher Strafen in der Erziehung habe das Konsistorium sein paternalistisches Gesicht gezeigt und eher als Tribunal agiert (S. 98). Auch ein Schutz von Frauen sei in Fällen, in denen es um Sexualmoral und die Ehe vor dem Konsistorium ging, aus den Quellen gerade nicht zu erschließen (S. 136f., 223), wie in Kapitel 4 resümiert wird. Die Kontrolle sexueller Kontakte und des ehelichen Lebens durch das Konsistorium sei weitreichend und auch effizient gewesen.
Eine feinere Differenzierung ist für Watt dagegen angebracht bei der Auswertung der Fälle, in denen es vor dem Konsistorium um Aberglaube, Magie und Hexerei ging (Kapitel 5). Denn immerhin ist in der Forschung mit der Reformation in Genf und dem Calvinismus schon eine »Entzauberung der Welt« (Max Weber) und die Vorbereitung rationaler Wissenschaft, losgelöst von einem magischen Glauben (Robert K. Merton, Keith Thomas), verbunden worden. Oder es wurde im Gegensatz dazu die Rolle des Protestantismus im Prozess der Desakralisierung und Säkularisierung bezweifelt (Robert Scribner). Watts Studie deutet darauf hin, dass Calvin und seine Anhänger zwar immer noch davon ausgingen, dass Gott auf verschiedene Weise in der Welt wirke. Mehr als im katholischen Bereich sei aber immer der Glaube an einen omnipotenten und transzendenten Gott Kern des Glaubens gewesen, der z. B. magischen Heilungspraktiken widersprach. Watt spricht in diesem Sinne von einer »certain desacralization of mentality« (S. 161, vgl. S. 227).
Das anschließende Kapitel 6 befasst sich dann mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Fällen, die sich dem Stichwort »innerweltliche Askese« (Max Weber) zuordnen lassen. Das Konsistorium unter Calvin setzte viel daran, Trägheit, Glücksspiel, weltlichen Gesang, Tanz, Trunkenheit, Wucher und Preistreiberei bis hin zur Verschwendungssucht unter der Genfer Bevölkerung zu bekämpfen. Kirchliche Eingriffe in diese Bereiche der Privatsphäre würden heute sofort als übergriffig wahrgenommen werden und sorgten offensichtlich auch in der Genfer Bevölkerung damals immer wieder für Konflikte oder stillen Widerstand. Andererseits habe das Konsistorium hier mit Erfolg eine strenge Arbeitsethik durchgesetzt. Calvin und seine Anhängerschaft hätten sicherlich keine freie Marktwirtschaft im modernen Sinne gekannt, gleichwohl sieht Watt doch noch eine »Wahlverwandtschaft« (»elective affinity«, S. 189) zwischen calvinistischer Frömmigkeit und dem »Geist des Kapitalismus«, wie ihn Max Weber beschrieb. Anders als Weber geht Watt aber davon aus, dass diese Beziehung weniger mit einem Glauben an die doppelte Prädestination zu tun hatte. Unklar bleibt, warum Watt an dieser Stelle nicht die Weiterentwicklung der Prädestinationslehre in den verschiedenen Ausgaben der »Institutio Christinae Religionis«, Calvins dogmatischem Hauptwerk, miteinbezieht (S. 188f).
Vor allem Kapitel 7 im Buch verdeutlicht aber, dass calvinistische Eigenarten für Watt eher in der direkten Praxis des Konsistoriums zu suchen sind, so vor allem bei der Moderation und Beratung von Konfliktfällen und Einzelvergehen bzw. Sünden. Das Vorgehen des Konsistoriums bis hin zum Ausschluss vom Abendmahl habe hier das traditionelle Bußsakrament ersetzt.
Man wird Watt sicherlich zustimmen können, dass das Genfer Konsistorium Ausdruck einer reformierten reformatio vitae war, die es in dieser Ausprägung im Bereich des Luthertums und des Katholizismus nicht gab. Sozialdisziplinierung diente diesem Anliegen und war weitergehender als das Vorgehen durch die römische Inquisition auf katholischer Seite (vom Fall der Hexerei oder Häresie abgesehen, vgl. S. 220–222). Während bei Watt gegenüber der katholischen Seite die konfessionellen Unterschiede deutliche Konturen gewinnen, wäre noch weitergehend danach zu fragen, wie genau die Unterschiede auf lutherischer Seite, z. B. im Bereich der frühneuzeitlichen Guten Policey verliefen (vgl. S. 219). Auch bleibt ein Vergleich mit der von Martin Bucer geprägten deutschen reformierten Tradition und deren Kirchenverfassungsformen noch ein Forschungsdesiderat.
Für den Bereich calvinistischer Sozialdisziplinierung hat Jeffrey R. Watt insgesamt ein sorgfältig erarbeitetes und sehr lesenswertes Buch vorgelegt, das einschlägig werden dürfte. Neben der englischsprachigen Calvinismus-Forschung wird auch die kontinentaleuropäische stets berücksichtigt. Dank genauer und aufwendiger Quellenauswertung gelingt es dem Verfasser durchweg, zwischen dem religiösen und soziokulturellen Alltag im frühneuzeitlichen Genf, den großen Linien der Geschichtsschreibung und den viel diskutierten Modernisierungsthesen zu vermitteln.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Markus M. Totzeck, Rezension von/compte rendu de: Jeffrey R. Watt, The Consistory and Social Discipline in Calvin’s Geneva, Rochester, NY (University of Rochester Press) 2020, 338 p. (Changing Perspectives on Early Modern Europe), ISBN 978-1-6482-5004-0, USD 24,95., in: Francia-Recensio 2023/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94399