Die angezeigte Studie ist eine für die Publikation überarbeitete thèse de doctorat, die von der Universität Neuchâtel 2018 mit dem Prädikat summa cum laude honoriert wurde. 2019 erhielt sie den Prix Dominique Favarger, einen Förderpreis für innovative Forschungen zur Rechtsgeschichte des Kantons Neuchâtel, und wurde im selben Jahr mit Unterstützung des Office des archives de l’État de Neuchâtel (OAEN), des Centre Interfacultaire d’Histoire du Droit et de Droit Romain (CIHDDR) und des Musée d’art et d’histoire Neuchâtel gedruckt. Ihr Untersuchungsgegenstand, das Territorium Neuchâtel / Neuenburg, heute ein Kanton im frankophonen Landesteil der Schweiz, ging aus einer gleichnamigen Grafschaft hervor, die 1643 zum Fürstentum erhoben und 1648 im Westfälischen Frieden als ein souveränes Fürstentum unter dem Schutz der Schweizer Eidgenossenschaft anerkannt wurde. Seit 1406 war Neuenburg der Schweizer Eidgenossenschaft als ein »zugewandter Ort« verbunden, hatte jedoch keine Stimme auf den Schweizer Tagsatzungen und wurde erst mit dem Wiener Kongress 1815 ein Schweizer Kanton. Als Grafen, dann Fürsten von Neuenburg regierten zwischen 1504 und 1707 die Herzöge von Orléans-Longueville, eine Nebenlinie des französischen Königshauses Valois, denen der Besitz Neuenburgs innerhalb der französischen Adelshierarchie den Rang eines prince étranger einbrachte. 1707 folgten ihnen die Könige von Preußen aus dem Hause Hohenzollern nach. Sie regierten Neuenburg von 1707 bis 1806 sowie von 1814 bis zum Sturz der Regierung durch republikanische Montagnards 1848 und bis zum Verzicht Preußens auf alle Rechte über Neuenburg im Pariser Vertrag von 1857, der den »Neuenburger Konflikt« 1856/1857 beendete, als ein souveränes Fürstentum, das mit dem Königreich Preußen in Personalunion verbunden war.
In der Frühen Neuzeit übten mithin zwei Adelshäuser von europäischem Rang nacheinander Herrschaft in der Grafschaft und im Fürstentum Neuenburg aus. Beide Dynastien hatten mit Blick auf die herrschaftliche Durchdringung ihrer Besitzungen und die schriftliche Kodifikation des jeweiligen Landesrechts Zugriff auf ein beachtliches Know-how, das in Frankreich und in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches erarbeitet worden war. Dennoch schlugen unter der Regentschaft der Häuser Orléans-Longueville und Preußen während der drei Jahrhunderte der Frühen Neuzeit alle Versuche fehl, das in Neuenburg geltende Gewohnheitsrecht (droit coutumier) durch eine geschriebene Rechtsordnung (code) zu ersetzen. Alle herrschaftlichen Versuche, das öffentliche Recht (droit civil) und das Prozessrecht in einer Kodifikation zu verschriftlichen, stießen im Territorium auf multiple Widerstände (résistances), auf deren Studium sich der Historiker Adrien Wyssbrod in seiner Doktorarbeit fokussiert.
Im Anschluss an methodologische Vorbemerkungen und eine begriffliche Abschichtung der Termini résistance, coutumier und code stellt Wyssbrod die Hauptquellen des neuenburgischen Gewohnheitsrechts vor, insbesondere die points de coutume, die der Conseil d’État in Neuenburg, bei dem das alleinige Recht lag, Recht zu sprechen, fortlaufend produzierte. Wyssbrod verfolgt in einer Langzeitstudie über drei Jahrhunderte die Versuche der Regenten, das öffentliche Recht und das Prozessrecht auf Basis dieser Rechtsprechung schriftlich zu fixieren und damit herrschaftstechnisch einzuhegen. Zwar entstanden auf diese Weise Rechtssammlungen wie der coutumier des Kanzlers Jean Hory aus dem frühen 17. Jahrhundert, der in Abschriften im Territorium kursierte, oder der coutumier Samuel Ostervalds, der 1785 gedruckt wurde. Doch angesichts der inneren Machtverhältnisse im Territorium, wo sich die Häuser Orléans-Longueville und Preußen als die persönlichen Inhaber der territorialen Hoheitsrechte einflussreichen Eliten privilegierter ständischer und städtischer Amtsträger gegenübersahen, die den Conseil d’État besetzten, erlangte keine dieser Arbeiten offiziell Geltung als Kodifikation des Neuenburger Rechts. Auch als die preußischen Könige, insbesondere Friedrich II., ihre Bemühungen intensivierten, in Neuenburg zumindest das Zivilrecht zu kodifizieren, scheiterte das bis 1806 am hinhaltenden Widerstand der neuenburgischen Amtsträger. Bei strafrechtlichen Ermittlungen wurde noch nach 1814, mithin nach der Restauration des Fürstentums an die Hohenzollern, die Folter angewandt, die in Preußen längst abgeschafft war. Auch der Feldmarschall Louis Alexandre Berthier, den Napoleon 1806 bis 1814 als Fürsten von Neuchâtel installierte und der nie den Boden des Territoriums betrat, ließ dort die alte Ordnung unangetastet.
In der Sorgfalt, vermittelst derer Wyssbrod die Praxis der Rechtspflege in Neuchâtel, die Bemühungen um eine Kodifikation des Landesrechts und die innerterritorialen Widerstände, auf die die Kodifikationsbemühungen von Landesherr und Regierung stießen, im Rahmen einer Langzeitstudie für drei Jahrhunderte akteurszentriert beschreibt, vom Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung bis zur Aufklärung und zum Ende des Ancien Régime, liegt der zentrale Wert seiner Studie, welche die Archivüberlieferung in Neuchâtel und in Berlin gleichermaßen auswertet und gegenüberstellt. Zwangsläufig Stückwerk bleibt hingegen sein Versuch, abschließend zu einem allgemeinen Vergleich gesellschaftlicher Widerständigkeiten gegen Herrschaftshandeln im Ancien Régime fortzuschreiten, der neben der Geschichte des französischen »Code civil« kulturübergreifend auch die kemalistische Revolution in der Türkei und die Meji-Restauration in Japan berücksichtigt.
Indem Wyssbrod den Stellenwert der neuenburgischen coutumiers im Herrschaftsgefüge des Territoriums in den Blick nimmt, den »Sitz im Leben« des oralen Gewohnheitsrechts erforscht, detailgenau und akteurszentriert Praktiken dynastischer Herrschaftsausübung rekonstruiert und Formen innerterritorialer Widerständigkeit gegen herrschaftliche Akte studiert, legt er nicht allein eine wertvolle Studie zur Rechtsgeschichte Neuenburgs vor, die er mittlerweile noch durch zwei ergänzende Quelleneditionen abrunden konnte1, sondern er vermittelt zugleich tiefe Einsichten in Herrschaftspraktiken und in innergesellschaftliche Zustände einer kleinräumigen territorialen Lebenswelt des Ancien Régime. Die Frühneuzeitforschung verdankt Wyssbrod eine instruktive Fallstudie zur Praxis frühneuzeitlicher »Mehrfachherrschaft« (Franz Bosbach), die am Beispiel der brandenburgisch-preußischen »composite monarchy« (John H. Elliott) einen paradigmatischen »composite state« (Helmut G. Koenigsberger) oder »Konglomeratstaat« (Harald Gustafsson) der Frühen Neuzeit von der Peripherie her in den Blick nimmt, ausgehend vom preußischen Fürstentum Neuenburg (Neuchâtel) in der »Suisse romande«, wo der König von Preußen, vermittelt durch seinen jeweiligen Gouverneur, seine Herrschaft aus der Distanz ausübte, die im wesentlichen schriftbasiert, vermittelst Korrespondenzen, erfolgte. Während die deutsche Historiografie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die dem Idealbild des einheitlich organisierten Nationalstaates huldigte, Brandenburg-Preußen vornehmlich als einen »Einheitsstaat« betrachtete (Ludwig Tümpel, 1915), fügt sich Wyssbrods Studie in Befunde der jüngeren Forschung ein, dass sich die Preußenkönige mit Rücksicht auf den Erhalt ihres heterogenen, nicht zuletzt konfessionell uneinheitlichen Territorienkonglomerats auf ein »Minimalprogramm« der Herrschaftsdurchsetzung vor Ort beschränkten, in dessen Zentrum unter dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (reg. 1640–1688) die Alleinkompetenz in der Außenpolitik, die Aufstellung eines stehenden Heeres und dessen Finanzierung standen 2.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Peter Arnold Heuser, Rezension von/compte rendu de: Adrien Wyssbrod, De la coutume au code. Résistances à la codification du droit civil à Neuchâtel sous l’Ancien Régime, (Université de Neuchâtel, CIHDDR Centre Interfacultaire d’Histoire du Droit et de Droit Romain) 2019, 359 p. (Préface de Denis Tappy), ISBN 978-1792-722-66-0, CHF 38,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94401