Die Erforschung von Europavorstellungen und Konzepten einer europäischen Einigung im Widerstand gegen den Nationalsozialismus und Faschismus ist ein klassisches Themenfeld der historischen Europaforschung. Bereits die wegweisenden Studien von Walter Lipgens zeigten, wie intensiv innerhalb von Widerstandsgruppen und unter Exilantinnen und Exilanten über Europa nachgedacht wurde1. In jüngster Zeit hat dagegen die andere Seite von Europaideen im Zweiten Weltkrieg stärkere Aufmerksamkeit erfahren: Das antiliberale Europa in Form des von Teilen der nationalsozialistischen Führungselite propagierten »Neuen Europa« oder verwandter Konzepte in den kollaborierenden oder besetzten Staaten2. Ein zentraler Befund dieses von Robert Belot und Daniela Preda herausgegebenen Sammelbandes ist, dass die beiden Seiten des Europadenkens im Zweiten Weltkrieg sich zwar einerseits diametral entgegenstanden, aber andererseits eng aufeinander bezogen waren. So reagierten die Europapläne des Widerstands oftmals explizit auf die vorgeblichen »Europaangebote« des politisch-ideologischen Gegners, ja bezogen Position gegen den nicht nur in Vichy-Frankreich omnipräsenten »Mythos des Neuen Europa« (S. 33), wie Belot in seinem eigenen, sehr kenntnisreichen Beitrag zur Résistance herausarbeitet.

Der Band beinhaltet neben der sehr knappen Einleitung von Belot und Preda insgesamt 27 englisch- und französischsprachige Beiträge eines erfreulich internationalen Kreises an Autorinnen und Autoren. Aufhänger ist eine gesellschaftspolitische Beobachtung: Die gegenwärtige Krise des Europabewusstseins, die sich im Aufschwung eines nationalistischen Rechtspopulismus und in einer regelrechten »europhobia« äußere, müsse als Folge eines Mangels an »historical knowledge of Europe« (S. 12) interpretiert werden, infolgedessen vielen Menschen die geschichtsträchtige Bedeutung der europäischen Einigung nicht länger klar sei. Um Abhilfe zu schaffen, wird in vier Teilen den Europaideen in den nationalen Widerstandsbewegungen (Teil 1), speziell im italienischen Widerstand (Teil 2), sowie unter Exilantinnen und Exilanten (Teil 3) nachgespürt. Abschließend verdeutlicht eine Reihe an Aufsätzen die transnationale Dimension des Themas (Teil 4).

Diese gesamteuropäische Perspektive, die teilweise sogar transatlantische Seitenblicke beinhaltet, ist – obschon insgesamt ein räumlicher Schwerpunkt auf Italien liegt – eine der großen Stärken des Bandes. Nicht nur ergibt sich so ein beeindruckendes empirisches Panorama, sondern grenzüberschreitende Verflechtungen werden eindrücklich als treibende Momente des Europadiskurses im Widerstand identifiziert. So illustriert Martyn Bond, wie sich einer der Protagonisten der Europabewegung in der Zwischenkriegszeit, der Gründer der Paneuropa-Union Richard Coudenhove-Kalergi, im New Yorker Exil neu erfinden konnte. Wenigstens indirekt, so urteilt Bond, habe Coudenhove durch seine breite Vortrags- und Publikationstätigkeit mit zahlreichen Memoranden für führende Politiker sowie infolge seiner guten Kontakte Einfluss auf die US-Planungen für ein Nachkriegseuropa ausgeübt – und sich dabei seinerseits von der amerikanischen politischen Praxis inspirieren lassen, was nicht zuletzt Ausdruck in einer fortan klar demokratischen Grundierung seiner Europaideen fand. Dass das analytische Niveau (und die Länge) der Beiträge stark divergiert, ist bei einem derartig weit angelegten Publikationsprojekt nicht weiter erwähnenswert – unklar bleibt dagegen, warum die Ausführungen zur Rolle italienischer Soldaten im Widerstandskampf in Jugoslawien von Maria Teresa Giusti in den Band aufgenommen wurden, obwohl sie keinerlei Bezüge zum Rahmenthema aufweisen.

Ansonsten stehen – eine zweite Stärke – nicht nur prominente und bereits intensiv beforschte Europapläne wie diejenigen des Kreisauer Kreises (im Beitrag von Wilfried Loth zum deutschen Widerstand oder dezidiert in dem von Stefano Dell’Acqua), des reformierten Theologen Willem Visser ’t Hooft (etwa bei Filippo Maria Giordano) oder zum »Manifest von Ventotene« im Fokus. Letzteres wird immer wieder in biografischen Bezugnahmen auf die beiden Autoren Altiero Spinelli und Ernesto Rossi oder die nicht so namhafte, aber für die Verbreitung des Textes enorm bedeutsame Mitbeteiligte Ursula Hirschmann (von Silvana Boccanfuso), sowie in dem originellen, auf Fragen der historischen Semantik abzielenden Aufsatz von Antonella Braga behandelt. Auch weniger bekannte Ideen finden Berücksichtigung. Andreas Wilkens stellt Biografie und Programmatik der jungen Sozialistin Hilda Monte (Hilde Meisel) vor, die sich im Zuge ihres Kampfes gegen den Nationalsozialismus vom kommunistisch geprägten Internationalismus zum Europäismus umorientierte und 1943 ein wortgewaltiges Plädoyer für eine wirtschaftliche wie politische Einigung Europas vorlegte. Übergreifend zeigen viele der Beiträge, dass sich im Widerstand – und zwar ebenso im konservativen wie im sozialistisch-kommunistischen – ein starkes Bewusstsein ausprägte, dass eine wie auch immer geartete demokratische (oder doch wenigstens nicht-faschistische) Friedensordnung nur in einem europäischen Rahmen und über strukturelle, internationale Zusammenarbeit aufgebaut werden konnte – eine historische Erkenntnis, an die zu erinnern im Jahr 2023 im Übrigen besonders zu lohnen scheint.

Die Breite der empirischen Beiträge jedenfalls macht den Band zu einer wahren Fundgrube für die ideen-, aber auch politik- und kulturgeschichtliche Europaforschung. Angesichts der inhaltlichen Dichte ist indes der Mangel an Systematisierung bedauerlich – die vierseitige, eher geschichtspolitisch akzentuierte Einleitung kann dies nicht leisten, zumal sie jegliche Diskussion der Forschungslandschaft (oder auch nur der Beiträge selbst) vermissen lässt. Letztlich verschenkt der Band auf analytischer Ebene so die Chance, einen grundlegenderen, strukturellen Beitrag zu Erforschung von Europavorstellungen in Widerstand und Exil zu leisten. Aus editorischer Sicht sind das Fehlen eines Registers, einer Bibliografie und eines Verzeichnisses der Autorinnen und Autoren ärgerlich. Vor allem jedoch hätten etliche der Aufsätze ein gründlicheres sprachliches Lektorat verdient gehabt: Neologismen wie »conspiracyist memory« (S. 11) und krumme Formulierungen durchziehen leider den Band.

1 So etwa Walter Lipgens (Hg.), Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940–1945. Eine Dokumentation, München 1968 (Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V., 26).
2 Vgl. Dieter Gosewinkel (Hg.), Anti-liberal Europe: A Neglected Story of Europeanization, New York 2015 (New German Historical Perspectives, 6); Raimund Bauer, The Construction of a National Socialist Europe during the Second World War: How the New Order Took Shape, London 2019 (Routledge Studies in Second World War History, 7).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Florian Greiner, Rezension von/compte rendu de: Robert Belot, Daniela Preda (ed.), Visions of Europe in the Resistance. Figures, Projects, Networks, Ideals, Bruxelles (Peter Lang Edition) 2022, 562 p., 2 fig., ISBN 978-2-87574-452-4, EUR 74,90., in: Francia-Recensio 2023/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94479