Eliten seien von der »breiten Bevölkerung abgehobene, sozial exklusive Gruppen von Personen, welche die Geschicke in Politik, Gesellschaft und Ökonomie machtvoll prägten, weil sie an der Spitze großer Organisationen stünden oder über ökonomisches Kapital verfügten«. Sie bildeten eine Art »Parallelgesellschaft«, in der für die »Wirklichkeit der normalen Bevölkerung, geschweige denn die der ärmeren Bevölkerungskreise«, kein Interesse bestünde (S. 10). Was sich wie eine Polemik rechtspopulistischer Observanz liest, stammt von Michael Hartmann, einem renommierten Soziologen. Thomas Kroll zitiert ihn in seiner Einleitung. Elitenkritik oder gar »Elitenbashing« (S. 11), das verdeutlichen diese Zitate, hat zurzeit wieder Konjunktur – auch wenn zwischen einem populistischen Antielitismus und einer sozialwissenschaftlich informierten Elitenkritik selbstverständlich unterschieden werden muss.

Vor diesem Hintergrund kommt der Themenband des »Archivs für Sozialgeschichte« wie gerufen. Drei Autorinnen und achtzehn Autoren aus den Disziplinen Geschichtswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft beschäftigen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit verschiedenen theoretischen Ansätzen und mit der Existenz, der Rolle und dem Wandel von Eliten in zeitlich vom frühen 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichenden historischen Konstellationen. Dabei zeigt sich, dass man historisch gesehen ein »Auf und Ab der Elitenbewunderung oder des Elitenbashings« konstatieren kann, so Peter Imbusch in seinem historisch-soziologischen Überblick zum Eliten-Begriff: »mal haben Eliten eher ein gutes Image, mal ein schlechtes, mal werden ihnen besondere Fähigkeiten oder Eigenschaften zugeschrieben, mal gelten sie als ›Nieten in Nadelstreifen‹, mal sollen sie kompatibel mit der Demokratie sein, mal stehen sie angeblich gegen sie« (S. 31). Mit »Elite«, so könnte ein definitorischer Minimalkonsens lauten, sind »jene Personen oder Gruppen von Personen« gemeint, »die über die Machtchance verfügen, Entscheidungen von allgemeiner gesellschaftlicher Bedeutung zu treffen«, also jene Menschen, so Kroll unter Berufung auf einen Definitionsvorschlag Anton Sterblings, »deren Handlungsvollzüge, Realitätsdeutungen und Entscheidungen auf Grund besonderer, in der Regel privilegierter Handlungschancen für größere Personenkreise oder Referenzgruppen meinungsbildend, handlungsrelevant oder mittelbar lebenssituationsverändernd sind« (S. 13).

Die ersten drei Beiträge des Sammelbandes stecken das Forschungsfeld ab: Kroll stellt die wichtigsten Definitionen und Konzepte der Elitenforschung dar, insbesondere die Unterscheidung nach »Machteliten«, »Funktionseliten« und »Werteliten« (S. 14 f.), und skizziert einige zentrale Problemfelder einer Sozialgeschichte der Eliten im 19. und 20. Jahrhundert. Imbusch setzt sich mit verschiedenen Eliteverständnissen auseinander, und Morten Reitmayer, der bereits mehrere wegweisende Arbeiten zum Thema veröffentlicht hat, informiert über den gegenwärtigen Stand der Elitenforschung. Eine »ambitionierte gegenwartsnahe Elitenforschung«, so sein Appell, hätte ihren Platz im Kontext von »Globalisierungsprozessen«, die wachsenden Reichtum ermöglichen, dem »Handeln oder Nichthandeln der von Ungleichheitsdynamiken Betroffenen« und den in diesem Feld operierenden Eliten, die entweder von den entsprechenden »Gelegenheitsstrukturen profitieren oder diese sogar selbst schaffen«, und jenen, »die den Unmut des Elektorats managen« (S. 76).

Die folgenden Beiträge sind konkreter auf bestimmte Länder (z. B. Italien unter napoleonischer Herrschaft, Frankreich unter dem Vichy-Regime oder die SBZ/DDR und den Elitenwechsel auf dem Land), Gruppen (z. B. die Gesandten der Deutschen Bundesversammlung von 1815 bis 1866, die Diplomaten der DDR, den britischen Civil Service und die politische Kultur Großbritanniens im 20. Jahrhundert oder Unternehmensberater und -beraterinnen in der Bundesrepublik) sowie Institutionen (z. B. die Studienstiftung des deutschen Volkes und die Begabtenförderung im 20. Jahrhundert oder das intellektuelle Kommunikationsverhalten in der frühen Bundesrepublik) fokussiert. Außerdem enthält der Band Aufsätze etwa zur Besteuerung und Enteignung ökonomischer Eliten in Demokratie und Diktatur oder zur Ausbreitung »meritokratischer Deutungsmuster sozialer Ungleichheit« (S. 199). Die meisten Beiträge stützen sich auf die einschlägige Literatur, manche auf unveröffentlichte Quellen, alle argumentieren auf hohem Niveau.

Wer sich über den Stand der Forschung zu den Formen und Funktionen sowie zur Bedeutung von Eliten zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Ländern verlässlich informieren möchte, sollte diesen überaus gehaltvollen, weitgefächerten und inspirierenden Band gründlich studieren. Er kann überdies in der aktuellen Auseinandersetzung mit dem allzu platten (rechts)populistischen Elitenverständnis von großem Nutzen sein.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Kirsten Heinsohn, Thomas Kroll, Anja Kruke, Philipp Kufferath, Friedrich Lenger, Ute Planert, Dietmar Süß, Meik Woyke (Hg.), Eliten und Elitenkritik vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Bonn (Dietz) 2021, 644 S. (Archiv für Sozialgeschichte, 61), ISBN 978-3-8012-4280-0, EUR 68,00., in: Francia-Recensio 2023/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94487