Bei dem vorliegenden von dem Mediävisten Stéphane Péquignot und dem Archivar Yann Potin herausgegebenen Sammelband handelt es sich um die Verschriftlichung der Ergebnisse und Diskussionen einer gleichnamigen Reihe mehrerer interdisziplinärer Tagungen, die zwischen 2012 und 2015 in Madrid, Athen und Paris stattfanden. Wie Péquignot in der Einleitung ausführt, liegt dieser Publikation die sicherlich richtige und wichtige Feststellung zugrunde, dass die gegenwärtige Archivlandschaft von vielfältigen und sehr unterschiedlich gelagerten Konflikten geprägt ist. Der Sammelband beinhaltet insgesamt 21 meist als Fallstudien konzipierte Beiträge, wobei in geografischer Hinsicht der Fokus in erster Linie auf Frankreich und Spanien gerichtet ist. Die Autorenschaft setzt sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Geschichtswissenschaft und insbesondere Mediävistik, der Rechtswissenschaft und Anthropologie sowie Archivarinnen und Archivaren zusammen. Die sich dadurch ergebende interdisziplinäre Perspektive ist auf der einen Seite zweifellos spannend und der Komplexität des Themas sicherlich angemessen. Auf der anderen Seite erschwert sie aber die Kohärenz des Sammelbandes.
Die Klassifikation der Beiträge erfolgt in Form von vier Themenblöcken. Der erste Teil umfasst Untersuchungen, die sich vorwiegend mit der Entstehungsgeschichte einzelner Archive wie der des Archivs der Krone von Aragón in Barcelona, des griechischen Staatsarchivs und des Generalarchivs zum Spanischen Bürgerkrieg in Salamanca befassen. Im Mittelpunkt steht dabei vor allem die Frage, welche juristischen, mentalitätsgeschichtlichen und erinnerungspolitischen Konflikte die Entstehung und/oder die Namensgebung der jeweiligen Archive hervorriefen und wie sich diese Auseinandersetzungen im Zuge der sich verändernden politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entwickelten.
Der zweite Teil vereint unter der Überschrift »Archives subalternes, archives militantes?« Beiträge zu Archiven, die nicht öffentlich zugänglich sind und/oder nicht staatlich betrieben werden und in der Archivlandschaft eine Art Schattendasein fristen. Bei den fünf Einzelstudien steht vor allem die Frage im Mittelpunkt, welche Akteursgruppen beim Gründungs- und Verstetigungsprozess solcher Art von Archiven involviert sind. Darüber hinaus werden Konflikte analysiert, die sich im Hinblick auf Forderungen nach einem »Recht auf Archive« und die damit einhergehenden Konflikte um Besitz und Nutzung der entsprechenden Archivalien ergeben.
Der dritte Teil thematisiert die vorsätzliche Zerstörung von bestimmten Archivbeständen oder ganzen Archiven. Diese erfolgte vor allem im Zuge einschneidender gesellschaftlicher und politischer Umbrüche wie etwa der Französischen Revolution oder in der als Transición bezeichneten Übergangsphase nach dem Ende der Franco-Diktatur in Spanien. Die insgesamt fünf Beiträge beschreiben die Vernichtung von archivalisch relevanten Unterlagen als Ergebnis komplexer Prozesse, die sowohl zum Zeitpunkt ihrer Durchführung als auch in der erinnerungspolitischen Aufarbeitung Gegenstand von weitreichenden gesellschaftlichen Debatten waren, die sich teilweise bis in die Gegenwart erstrecken.
Der vierte und letzte Teil umfasst insgesamt sechs Beiträge, in denen Konflikte untersucht werden, die mit der Öffnung von Archiven oder dem Zugänglichmachen von bestimmten Archivbeständen einhergehen. Während im vorangegangenen Teil die Motive der handelnden Akteurinnen und Akteure vor allem darin bestanden, gesellschaftliche Spannungen durch das Zerstören von für bestimmte Personen oder Personengruppen belastenden Dokumenten vorzubeugen, stellt die kontrollierte Öffnung von Archiven in den im vierten Teil des Sammelbandes untersuchten Fallbespielen im Gegensatz dazu vor allem einen Prozess dar, in dem durch die Herstellung von Transparenz ein bereits bestehender oder ein sich anbahnender Konflikt entschärft werden soll.
In seinem den Band abschließenden Fazit betont Potin die Vielfältigkeit der Konfliktsituationen, die in den Beiträgen analysiert wurden. Für eine transnationale Archivgeschichte, die all diesen Facetten gerecht werden soll, regt er zudem an, die Archive nicht als eine statische Ansammlung von Akten anzusehen. Ein reines Fokussieren auf die Entstehungsbedingungen von Archiven würde ihrer gesellschaftlichen und politischen Bedeutung nicht ansatzweise gerecht werden. Stattdessen sollten die Archive metaphorisch betrachtet als aktive Akteure verstanden werden, die ihre Geschichte als »treibende Kräfte« oder »blockierende Elemente« selbst mitgestalten.
Auch wenn der starke Fokus auf Frankreich und Spanien den transnationalen Ansatz etwas einschränkt und die Kohärenz aufgrund der hohen Interdisziplinarität der einzelnen Fallstudien nicht immer vollständig gegeben zu sein scheint, stellt der Sammelband insgesamt einen wertvollen Beitrag zur Erforschung der Archivgeschichte unter transnationaler Perspektive dar. Einzelne Beiträge können dabei als Blaupause für weitere Fallstudien dienen. Wie etwa eine Konferenz zum Thema »Strategien der Verhinderung. Der Zugang zu Archivalien in Frankreich und Deutschland im internationalen Vergleich« am Deutschen Historischen Institut Paris im Januar 2021 gezeigt hat, lassen sich die im vorliegenden Sammelband skizzierten Konfliktlinien auch auf andere europäische Länder übertragen und um weitere konfliktträchtige Themen wie etwa die Digitalisierung von Archivalien und den Umgang mit digitalisierten Archivbeständen erweitern1. Somit besteht die begründete Hoffnung, dass die zahlreichen wertvollen Anregungen des Sammelbandes für eine Neuverortung der transnationalen Archivgeschichte auf fruchtbaren Boden fallen und die Publikation Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachdisziplinen zu weiteren Studien in diesem Feld anregen wird.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Florian Grafl, Rezension von/compte rendu de: Stéphane Péquignot, Yann Potin (dir.), Les conflits d’archives. France, Espagne, Méditerranée, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2022, 342 p. (Histoire. Archives, histoire et société), ISBN 978-2-7535-8299-6, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2023/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94492