Die Studie von Juliette Rennes eröffnet mannigfaltige Perspektiven auf den öffentlichen Raum von Paris. Das damit entworfene faszinierende Panorama zu den »petits métiers« auf seinen Straßen und Plätzen um 1900 verdankt sich zum einen der Vielfalt der Quellen, die in enormem Aufwand zusammengetragen und mittels kluger Methodologie interpretiert wurden. Im Zentrum der Quellenarbeit liegen dabei Postkarten, auf denen Szenen, Personen, Berufe und Tätigkeiten abgebildet werden. Diese Postkarten wurden in der Zeit vielfach genutzt, um anderen Personen in und außerhalb von Paris eine Nachricht zukommen zu lassen, einen bestimmten Blick auf das Leben in Paris zu ermöglichen und auf spezifische Aspekte aufmerksam zu machen. Ihre Herstellung hatte mit der Inszenierung der »petits métiers« gleichzeitig im Blick, in einer Zeit rasanter Modernisierung des post-Haussmannschen öffentlichen Raumes eine nostalgische Wahrnehmung des »vieux Paris« zu erzeugen.

Bei der ethnografischen Durchsicht der Postkarten wie auch vieler anderer Erzeugnisse – Fotografien, Filme, Romane, Berichte, statistisches Material u. a. m. – lenkt Juliette Rennes zum andern mit den Kategorien Geschlecht, Alter und berufliche Tätigkeit die Aufmerksamkeit darauf, dass Existenz und Arbeit im öffentlichen Raum um 1900 männlich konnotiert waren und in selbstverständlicher Weise von Männern besetzt wurden (Kap. 2).

Nur wenigen Frauen, die in Tätigkeitsdomänen dieses männlichen Raumes vordrangen, wurde eine positive, wenn auch sexualisierte Aufmerksamkeit zuteil. Rennes kann dies insbesondere an den ersten Kutscherinnen, Reporterinnen und sportlich aktiven Frauen zeigen (Kap. 3). Im Falle der Reporterinnen macht sie zudem darauf aufmerksam, dass mit ihnen auch ein anderer Blick auf das Geschehen in den Straßen von Paris möglich wurde.

Tätigkeitsbereiche, die sowohl von Männern wie von Frauen besetzt wurden, zeigen bei genauerem Hinsehen eine innere Differenzierung nach Geschlecht. Während Frauen unter freiem Himmel Waren feilboten, erwirkten sich Männer häufig einen fixen Arbeitsplatz an einem überdachten oder eingeschalten Stand. Es bestand eine Hierarchie zwischen dem Verkauf mit einem Karren oder einem Korb, wobei beides ständigen Schikanen von Polizeibeamten ausgesetzt war. Die Hauslieferung von Brot galt als pittoresker Aspekt der Pariser Straßen, auch wenn diese Frauenarbeit wegen des vielen Treppensteigens äußerst anstrengend und in den dunklen Treppenhäusern wegen männlicher Attacken gefährlich war. Bei der Straßenreinigung kehrten Frauen die Straßen mit Besen, während Männer mit Gerätschaften dieselben wuschen und desinfizierten (Kap. 4).

Zwar führten alle diese Tätigkeiten Männer wie Frauen in den öffentlichen Raum der Straßen und Plätze. Aber während Männer dabei keine besondere Aufmerksamkeit erfuhren, bewegten sich Frauen auf fremdem Territorium, sollten darin nicht verweilen und nicht auffallen. Bei Tätigkeiten, für die es gerade die Aufmerksamkeit des Publikums brauchte, fällt deshalb die Geschlechterteilung und die geschlechterbestimmte Unterschiedlichkeit der Normen auf. Dies zeigt sich schon bei Zeitungsjungen, die ihre Waren laut schreiend anboten, aber auch bei Schaustellern und Gauklern, die Zuschauende erfreuen sollten, – bei beiden Gruppen fällt die Absenz von Frauen auf. Prostituierte, die ihre Kundschaft in den Straßen suchten, unterlagen in dieser Ordnung speziellen Schwierigkeiten: Während sie den Klienten ihre Verfügbarkeit sichtbar machen wollten, durften sie gleichzeitig nicht auffallen und wurden auch von der Polizei streng und willkürlich überwacht. Gleichermaßen zur Unsichtbarkeit aufgefordert waren unter den Männern einzig Homosexuelle, die, ob als Stricher oder als Kunden, von Norm und Praxis hegemonialer Männlichkeit in die Klandestinität gezwungen wurden (Kap. 5).

Neben der Kategorie Geschlecht und verschränkt mit ihr ist die Wirksamkeit der Kategorie Alter beobachtbar. Junge Frauen erfuhren eine den eigentlichen Wert ihrer Arbeit übersteigende Wertschätzung. Da die Kundschaft ihre Präsenz als Verkäuferin, Botin, Arbeiterin usf. mit Aufmerksamkeit bedachte, versprachen sich Händler größere Verkaufszahlen. Demgegenüber verloren ältere Frauen nicht nur an Wert und Wertschätzung, sondern ihre Präsenz verkehrte sich geradezu ins Gegenteil. In teilweise heftiger Reaktion wurde ihnen die Berechtigung, arbeitend in der Öffentlichkeit zu verbleiben, abgesprochen. Sie wurden von Polizeibeamten, von Konkurrenten und jüngeren Konkurrentinnen heftig angegangen und es blieben ihnen unvorteilhafte Verkaufsorte (Kap. 6).

Es gehört zum Sachverhalt, dass der öffentliche Raum als männliches Territorium stets neu definiert wurde, dass der beobachtende Blick in aller Regel ein männlicher war. Soweit er sich in kulturellen Erzeugnissen wie Texten, Bildern, Fotos, Postkarten, Liedern u. a. manifestierte, war er zudem zumeist von bürgerlichen Positionen geprägt. In Kapitel 7 wird dieser Sachverhalt unter dem Titel »Sous l’œil des suiveurs« thematisiert. Als »suiveur« entpuppt sich dabei jedes männliche Wesen, aber mit einer starken Verengung auf einen bürgerlichen, schon etwas älteren und vermögenderen Mann. Unter seinem Blick wurden »Pionierinnen« wie die Kutscherinnen jünger wahrgenommen, als sie waren, und dazu sexualisiert dargestellt. Aber auch die Textilarbeiterinnen wurden als jung und verfügbar, wenn auch nicht käuflich imaginiert und entsprechend zudringlich angegangen. Dabei gerieten die sittlichen Normen bei den Widersprüchen zwischen Vorstellungen und Verhalten ins Rutschen und gleichzeitig entstand im Alltag unter Arbeiterinnen die Forderung, respektiert zu werden.

Das abschließende Kapitel »Paris feministe?« (Kap. 8) diskutiert, wie Feminismus zwar als Zeichen einer allgemeinen Modernität der Stadt verstanden wurde, gleichzeitig aber die konkreten Erscheinungen in alten Werthaltungen interpretiert wurden. Dies zeigte sich etwa daran, dass junge Frauen tatsächlich die Möglichkeiten nutzten, die ihnen von neuen Tätigkeiten wie »Kutscherin« geboten wurden, und dass sie darin auch viel Zustimmung erfuhren. Aber gleichzeitig brauchten sie als Token auch enormen Mut, um als quasi öffentliche Person alle Späße, Anzüglich- und Gehässigkeiten auszuhalten.

Rennes unternimmt es in ihrem »Epilogue« dagegen anzuschreiben, dass die Pionierinnen als feministische Heldinnen stilisiert werden könnten. Im feministischen Bemühen, Vorbilder zu kreieren bzw. zu finden, sei die Literatur geneigt, aus Frauen wie etwa den Pariser Kutscherinnen nachahmenswerte Heldinnen zu machen. Dabei werde völlig übersehen, dass solche Frauen häufig einfach die Gelegenheiten packten, die sich ihnen in ihren Lebenszusammenhängen ergaben, ohne dass sie auch nur im Geringsten sich selbst in einer Bewegung weiblicher Emanzipation gesehen hätten. Zudem stehe hinter der Vorbilddefinition eine liberale individualistische Sicht auf Menschen, die deren konkreten sozialen und kulturellen Einbettungen und Prägungen kaum Aufmerksamkeit schenke.

Indem Rennes in ihrer historischen Analyse sozialer und kultureller Perspektiven auf Frauen und Männer, die in Paris im Rahmen der Arbeit vor allem in den »petits métiers« den öffentlichen Raum durchschritten, ebendiese von ihr kritisierte Sichtweise kontrolliert, gelingt ihr ein überaus lebendiges Bild des Pariser öffentlichen Arbeitslebens um 1900. Dieses fügt sich dank ihres präzisen analytischen Blicks zu einer Exemplifizierung geschlechtergeschichtlicher Theorie in Bezug auf Geschlechterrollen, vergeschlechtlichte Räume und Geschlechterbeziehungen. Ihr Buch ist dadurch ebenso lesenswert wie die zahlreichen Illustrationen die Betrachtung lohnen, die Rennes‘ Befunde gleichzeitig belegen wie verdeutlichen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Béatrice Ziegler, Rezension von/compte rendu de: Juliette Rennes, Métiers de rue. Observer le travail et le genre à Paris en 1900, Paris (Éditions de l’EHESS) 2022, 462 p. (Représentations, 15), ISBN 978-2-7132-2949-7, EUR 24,90., in: Francia-Recensio 2023/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94495