Das anzuzeigende Buch von Laurent Warlouzet ist sowohl ein Einblick in und eine Interpretation der Geschichte der europäischen Integration aus politischer und sozialer Perspektive, gleichzeitig aber auch eine Programmschrift für den Umgang des politischen und wirtschaftlichen Europa mit zukünftigen Herausforderungen und Krisen.

Es ist nicht die Absicht Warlouzets, eine »Erfolgsgeschichte« zu schreiben, nein, er widmet sich den Fortschritten der europäischen Integration in einem »ruhigen« Europa genauso wie den Krisen von der Nachkriegsgeschichte bis heute. Sein Buch beginnt somit nicht zufällig mit einem europakritischen Zitat Marine Le Pens zum Brexit und endet mit den Problemen, die der Populismus heute mit sich bringt.

Warlouzet erzählt die Geschichte des Kontinents nach 1945 und betrachtet abseits der großen Wegmarken 1945 und 1989 für die europäische Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wichtige Wendepunkte wie etwa 1958 und 1979. Damit hebt er sich wohltuend ab von Interpretationen, die das Jahr 1979 »nur« auf die Direktwahl des Europäischen Parlaments reduzieren. Selbst wenn das Europäische Parlament 1979 keine weiteren Rechte zugestanden bekam: Der Prozess der machtvollen Selbstfindung und der Kompetenzerweiterung, der 1958 langsam gestartet war, nahm mit der Direktwahl 1979 eine neue Intensität an, in deren Ergebnis die folgenden Verträge der Europäischen Gemeinschaften/EU das Parlament als Volksvertretung der Europäerinnen und Europäer stärkten, aber es auch stärker in die Verantwortung nahmen. Dass diese Verantwortung mal mehr und mal viel zu wenig wahrgenommen wurde und wird, findet man bei Warlouzet sehr gut analysiert.

Warlouzet möchte mit seiner Darstellung der europäischen Integration auf sozialem und politischem Gebiet mit zwei Interpretationen, oder wie er es nennt, »une double illusion«, aufräumen: der deutschen Dominanz in der Geschichte der Integration und der Vorstellung eines schwerfälligen und bewegungslosen Europa.

Methodisch nähert sich Warlouzet über drei große von ihm auch im Untertitel aufgeführte Konstanten seiner Analyse: Freiheit (freier Markt und Ultraliberalismus), Solidarität (sozial) und Macht (Neomerkantilismus). Sie bilden für ihn das Grundgerüst der Geschichte Europas nach 1945. Unter diesen Großbegriffen beschreibt Warlouzet jedoch nicht nur die großen Institutionen der EG/EU, sondern widmet sich auch anderen Formen von Integrationsbemühungen auf europäischer Ebene, mögen sie nun erfolgreich gewesen sein oder nicht. Er versteht es, alle drei Konstanten auf die europäische Nachkriegsgeschichte anzuwenden, ihre Widersprüche und ihr Zusammengehen etwa in Bezug auf die Globalisierung der Wirtschaft, den Wettkampf der Großmächte der Welt, die Gesellschaftsgeschichte Europas und seine sozialen Umwälzungen zu erklären. Er schlägt den Bogen bis in die heutige Zeit, ausgehend von Europaeuphorie und -skeptizismus mehrerer Jahrzehnte bis hin zu Populismus und Europafeindlichkeit.

Die Untersuchung teilt sich in drei Abschnitte. In jedem dieser Abschnitte stehen gesellschaftliche und politische Akteure im Mittelpunkt. Der erste Abschnitt widmet sich den ökonomischen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen Europas und ihren institutionellen Einbindungen. Das zweite Kapitel (1948–1991) analysiert die Stärken und Schwächen der politischen Projekte im Sinne der oben genannten drei Konstanten: das ultraliberale Europa, in dem der Markt das zentrale Moment sei, das soziale Europa, das versucht, diesen Markt zu begleiten und das Scheitern der Bemühungen, Europa radikal zu einer Art Sozialunion (Gleichstellung der Geschlechter, Beschäftigungspolitik, Umweltschutz, Europa der Regionen etc.) zu machen. Sehr gut kommt hier zum Tragen, wie sehr trotz des Wunsches, ein gemeinsames Europa zu bauen, doch nationale Interessen immer eine Rolle spielten und, dass das Changieren zwischen einem sozialen und liberalen Europa doch stark von Konkurrenzdenken geprägt war.

Im dritten Kapitel (ca. 1991–heute) beschreibt Warlouzet eine »Euphorie libérale«, die als Begriff den Kern der europäischen Politik gut trifft. Auch im Hinblick auf die Erweiterung nach Osteuropa und die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) konnten sich die Anhänger einer ultraliberalen Wirtschaftspolitik weiter behaupten. Hier kommt wieder das soziale Europa als Konstante ins Spiel. Die sehr auf Wirtschaft konzentrierte Europapolitik verschärfte nationale soziale Ungleichheiten und gefährdete die Akzeptanz des politischen Europa. Bei aller berechtigten und erwünschten Kritik am offenen Prozess der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Integration bietet diese Situation jedoch europafeindlichen Populisten eine Bühne, wie der am Beginn schon erwähnten Marine Le Pen. Der Umgang mit diesen Tendenzen und die Kenntnis des Umgangs mit Krisen der Vergangenheit werden den Weg Europas in die Zukunft begleiten. Damit dies gelingen kann, sei dem Buch eine breite Leser- und Leserinnenschaft gewünscht!

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Ines Soldwisch, Rezension von/compte rendu de: Laurent Warlouzet, Europe contre Europe. Entre liberté, solidarité et puissance, Paris (CNRS Éditions) 2022, 496 S., ISBN 978-2-271-13846-0, EUR 26,00., in: Francia-Recensio 2023/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94499