Im Sinne einer histoire totale der mittelalterlichen Kleidung steht dieser Band in der Tradition von Françoise Piponnier (1932–2013), der der Band gewidmet ist und die die Geschichte der Kleidung seit den 1970er-Jahren erneuert und geprägt hat. Die Vertiefung der wirtschaftlichen, sozialen und technischen Aspekte einer Geschichte der Kleidung ist das Ziel des Bandes, der auf einer im Jahr 2016 gehaltenen Tagung basiert. In der Einleitung zeichnet Nadège Gauffre Fayolle die französisch- und englischsprachige Forschungsgeschichte seit den 1970er-Jahren nach und stellt ein verstärktes und diversifiziertes Interesse an der Erforschung mittelalterlicher Kleidung ab den 2000er-Jahren fest, das auch über die traditionellen, sozialhistorischen und sachkulturellen (histoire du vêtement) Fragestellungen hinausgeht. Gauffre Fayolle führt dieses Interesse vor allem auf internationale Kolloquien, Handbücher und Ausstellungen zurück (S. 14f.). Dafür hätte es auch im deutschsprachigen Bereich mit den Arbeiten von Stephan Selzer zur Farbe Blau im Spätmittelalter, von Jan Keupp zur Wahl des Gewandes und von Kirsten O. Frieling zu Kleidung an Fürstenhöfen um 1500 (alle erschienen in den 2010er-Jahren), Anknüpfungspunkte für den Forschungstrend gegeben1.

Die beiden Schwerpunkte des Bandes sind: die Wirtschaft der Kleidung und Kleidungskultur. Ihnen können je zwei Unterpunkte zugeordnet werden. Der wirtschaftliche Aspekt wird jeweils durch vier Beiträge anhand der Punkte »Auf der Suche nach dem Rohstoff« und »Kleidung: Produktion und Zirkulation« aufgezeigt. Die Kleidungskultur wird untersucht in den Punkten »Soziale Kodierung, Übertretung und Gebrauch« und »Imaginaire, Erbe und Neuinterpretation« durch drei bzw. vier Beiträge.

Die Orte der Versorgung mit Woll- oder Seidenstoffen sind die großen Messen der Champagne, die Knotenpunkte für Produzenten und Verkäufer sind, wie Mickaël Wilmarts in seiner Studie unterstreicht. Die am Ende des Vertriebswegs stehenden örtlichen Tuchhändler stellt Rémi Rousselot-Viallet anhand der spätmittelalterlichen Ikonografie in ihrem Arbeitsumfeld vor. Sophie Desrosiers widmet sich explizit den bescheidenen italienischen Seidenstoffen in ihrer Materialität und ihren Eigenschaften anhand von Originalgeweben aus Museen in Lyon und London. Mit der italienischen Seide des Spätmittelalters war ein Produkt vorhanden, das auch Richtung Osten nach Konstantinopel vermarktet wurde, wie Ingrid Houssaye Michienzie und Suzanne Lassalle anhand des Nachlassinventars eines ausgewanderten florentinischen Kaufmanns aufzeigen.

Wer produziert und was im Umlauf ist, wird im zweiten Teil innerhalb des wirtschaftlichen Schwerpunkts des Bandes behandelt. Die Rolle des Hofschneiders als direkter Produzent von Endprodukten, insbesondere von Eilaufträgen, wird von Nadège Gauffre Fayolle analysiert. Parallel zum Beitrag von Rousselot-Viallet hat Perrine Mane eine umfassende Studie des ikonografischen Materials anhand der Darstellung von Schneidern und Kleiderhändlern in Verbindung mit archäologischen Funden und Inventaren durchgeführt. Wer an die burgundischen Herzöge des Spätmittelalters denkt, hat die einzigartigen Kopfbedeckungen vor Augen; sie werden von Sophie Jolivet behandelt. Das Ende des Lebenszyklus eines Kleidungsstücks bedeutete oft nicht die Entsorgung, sondern die Weitergabe und Wiederverwendung, wie sie in Schenkungen, Vermächtnissen oder Pfändungen zum Ausdruck kommen (Anne Kucab).

Der Gebrauch und Umgang mit Kleidung waren stark kodifiziert, da die Kleidung nicht nur einem bestimmten Zweck diente, sondern auch eine symbolische Zeichenhaftigkeit besaß. Diese Annahme unterstreichen die folgenden drei Beiträge anhand der Kleiderordnungen in Florenz (Christiane Klapisch-Zuber), der Farbe der Kleidung (Michel Pastoureau) und der Bekleidung von Haustieren an den königlichen und fürstlichen Höfen (Danièle Alexandre-Bidon). Gemeinsam ist den Beiträgen der Ansatz, dass die verschiedenen Gruppen in ihrer Kleidungswahl kontrolliert und modelliert wurden, weshalb auch Haustiere den Codes unterworfen waren, um sie dem höfischen Milieu anzugleichen.

Im zweiten Teil zur Kleidungskultur, und damit im letzten Teil des Bandes, befasst sich Maxime Gelly-Perbellini mit Beispielen von Imaginaire, Erbe und Neuinterpretation. Eine ikonische Figur aus der Vorstellungswelt des Spätmittelalters waren Hexen, deren Typologie er skizziert und die anhand einer königlichen lettre de rémission, die im Anhang abgedruckt ist, beispielhaft exemplifiziert wird. Die folgenden drei Beiträgen machen einen Sprung in das 19. und 20. Jahrhundert: zunächst wird die Verwendung mittelalterlicher Stoffe als Inspirationsquellen für die moderne Seidenindustrie (Florence Valantin) untersucht. Dann erfolgt mit den Beiträgen von Sébastien Passot und Yohann Chanoir ein Sprung in die siebte Kunst, die Filmkunst. Sie untersuchen die Frage der Historizität, ihre Schattierungen (Rekonstitution, Transposition, Evokation und Dramatisierung) und ihre Funktion in Filmen unterschiedlicher Produktion (Frankreich, Hollywood).

Ausgehend von einem breiten Panorama mittelalterlicher Überreste und Traditionen aus Geschichtsschreibung, Theologie, Ökonomie, Rechtsquellen, Realien und bildlichen Darstellungen in Handschriften sowie modernen Textilien und Filmen bieten die Beiträge unterschiedlichste Facetten der Produktion, des Umgangs und der Zirkulation von Textilien in Europa (und nach Konstantinopel) zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert. Betrachtet man erneut das thematische Spektrum, so lassen sich mindestens vier Ansätze in der Forschung identifizieren, die das Panorama erweitern würden: Da ist erstens die Perspektive der Gender Studies2, zweitens die der Arbeit und Arbeitszeit3, drittens die der Rhetorik und Praktiken des Verkaufens4 und schließlich die Zeichenhaftigkeit für eine Gesellschaft mit ihren Ansprüchen und Widersprüchen5. Der Stoff für weitere Forschungen zur Kleidung im Mittelalter geht damit nicht aus.

1 Stephan Selzer, Blau: Ökonomie einer Farbe im spätmittelalterlichen Reich, Stuttgart 2010 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 57); Jan Keupp, Die Wahl des Gewandes. Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters, Stuttgart 2010 (Mittelalter-Forschungen, 33); Kirsten O. Frieling, Sehen und gesehen werden. Kleidung an Fürstenhöfen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit (ca. 1450–1530), Ostfildern 2013 (Mittelalter-Forschungen, 41).
2 Nur beispielhaft Judith. M. Bennett, Ruth Mazo Karras (Hg.), The Oxford Handbook of Women and Gender in Medieval Europe, Oxford, New York 2013.
3 Mathieu Arnoux, Le temps des laboureurs: travail, ordre social et croissance en Europe (XIe–XIVe siècle), Paris 2012.
4 Julia Bruch, Tagungsbericht: Ars Vendendi. Rhetorik und Praktiken des Verkaufens im Mittelalter, Frühjahrstagung des Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte e. V., in: H-Soz-Kult, 12.05.2022.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Nils Bock, Rezension von/compte rendu de: Danièle Alexandre-Bidon, Nadège Gauffre Fayolle, Perrine Mane, Mickaël Wilmart (dir.), Le vêtement au Moyen Âge. De l’atelier à la garde-robe, Turnhout (Brepols) 2021, 344 p., 2 ill. en n/b., 74 ill. en coul., 10 tab en n/b (Culture et société médiévales [CSM], 38), ISBN 978-2-503-59008-0, EUR 90,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94501