Dass ein Buch zum Eid in der späten Karolingerzeit ein lohnenswertes Unterfangen ist, leuchtet angesichts der Prominenz der »Straßburger Eide« unmittelbar ein. Die Eide, die sich die beiden Könige Ludwig und Karl am 14. Februar 842 gegenseitig und gegenüber den jeweiligen Anhängern leisteten, zählen angesichts der volkssprachigen Überlieferung in den »Historien« Nithards zu den bekanntesten Quellen der Karolingerzeit. Doch für den Verfasser ist der Eid nicht nur »ein zentraler Nerv«, sondern auch die »Achillesferse der karolingischen Gesellschaft«, weil er zwar das »wichtigste Instrument der Gewährleistung von Vertrauen« war, aber zugleich häufig den politischen Interessen untergeordnet und deshalb außer Kraft gesetzt wurde. Für die späte Karolingerzeit spricht der Verfasser sogar von »wiederholten Vertrauenskrisen«, weil sich während der Rebellionen gegen Ludwig den Frommen sowie in den Zeiten des Brüderkriegs nach 840 niemand mehr an Treueide gebunden gefühlt habe. Dies wurde von den in Meaux/Paris 845/846 versammelten Bischöfen deutlich angesprochen, als sie beklagten, »wie abscheulich und bei Gott hassenswert das vielfache Durcheinander der Eide und Meineide ist, durch das bekanntlich viele Seelen der Gläubigen in diesem ganzen Reich zugrunde gerichtet wurden«.
Wie reagierte nun die karolingische Gesellschaft auf diese existenzielle Vertrauenskrise? Bei der Beantwortung der Frage entscheidet sich der Verfasser dazu, den Eid nicht wie bislang üblich unter rechtsgeschichtlicher Perspektive zu erforschen, sondern die zeitgenössische Wahrnehmung des Eides in das Zentrum seiner Untersuchung zu stellen. Dies führt in der Anlage des Buches zu einer nach Quellengattungen organisierten Gliederung in Kapitel 3, dem Herzstück der Arbeit (S. 29‒354): Am Anfang stehen die wichtigen historiografischen Quellen von Thegans »Gesta Hludowici« bis zur »Weltchronik« des Regino von Prüm, dann folgt ein kurzer Blick in die hagiografische Literatur, bevor ausführlich die Auslegungen des Schwurverbots in den Kommentaren zum Matthäusevangelium thematisiert werden. Ein weiteres Unterkapitel ist den Traktaten Erzbischof Agobards von Lyon, dem Handbuch der Dhuoda und dem periurium-Dossier des Erzbischofs Hinkmar von Reims gewidmet. Erst im letzten Teil dieses Kapitels wendet sich der Verfasser den Rechtsquellen zu, wobei Kirchenrechtssammlungen, Konzilsbeschlüsse, Bischofskapitularien, Bußbücher, das Sendhandbuch Reginos von Prüm, die Kapitularien und Treueidformulare diskutiert werden. Das vierte Kapitel (S. 355‒425) bietet dagegen eine an der Chronologie orientierte Darstellung und erzählt die Geschichte der politischen Nutzung des Eides von den Rebellionen der 830er-Jahre bis zur Synode von Hohenaltheim (916).
Diese Gliederung hat Vor- und Nachteile. Neben einer gewissen Weitschweifigkeit und Redundanz mag als Schwierigkeit angesehen werden, dass einige Autoren wie Hinkmar von Reims in fast allen Kapiteln begegnen und dass seine Position zum Eid aus unterschiedlichen Stellungnahmen kombiniert werden muss. Dies fällt aber weniger ins Gewicht als der Vorteil, dass sich dadurch jeweils ein eigener Diskurszusammenhang abzeichnet. Besonders geglückt ist dies bei der Untersuchung der Matthäuskommentare der späten Karolingerzeit, die der Verfasser mit großer Kenntnis an die Standpunkte der Kirchenväter Hieronymus und Augustinus zurückbindet. Die Autoren der Karolingerzeit (Hrabanus Maurus, Paschasius Radbertus u. a.) legitimieren den Eid trotz des im Matthäusevangelium überlieferten Schwurverbots, indem sie den Eid als notwendiges Übel akzeptieren und den Eidverzicht als Weg zur Vervollkommnung anraten, ohne das Schwurverbot jedoch allein auf das Mönchtum zu beziehen. Der Verfasser zieht in diesem Kapitel auch den unedierten Matthäuskommentar des Pseudo-Remigius von Auxerre heran, der aus einer St. Galler Handschrift zitiert wird (der auf S. 436 versprochene Anhang mit Transkription ist jedoch nicht vorhanden). Der gattungsgeleitete Zugriff überzeugt gleichfalls beim Kapitel über die Historiografie. Hier gelingt es dem Verfasser zu zeigen, wie der Eid »als narratives Mittel zur Charakterisierung der Protagonisten« genutzt wurde. Besonders ergiebig dafür sind die »Historien« Nithards, in denen Lothar als jemand charakterisiert wird, der ohne Gewissensbisse Eide bricht. Erst in der Beschreibung Karls des Kahlen in den »Fuldaer Annalen« wird jedoch aus einer solchen Stilisierung anhand des Eidbruchs eine Diffamierung als Tyrann und Unrechtsherrscher.
Der Verfasser legt bei seinen Quelleninterpretationen besonderes Augenmerk auf die unterschiedliche Begrifflichkeit (iuramentum, sacramentum, professio, promissio). Er stellt zur Diskussion, ob sich in der zunehmenden Bevorzugung von sacramentum das Bemühen um eine Sakramentalisierung des Eides widerspiegele. Ein weiteres Argument dafür erkennt er in der Anordnung Karls des Kahlen aus dem Jahr 865, den Treueid nicht zu wiederholen, sondern nur diejenigen zu vereidigen, die ihn noch nicht geleistet hatten. Dies könnte darauf hindeuten, dass der Treueid als Sakrament wie die Taufe nicht wiederholt werden sollte. Als Reaktion darauf habe der Episkopat seit dem Konzil von Meaux/Paris versucht, einerseits selbst den Eid auf Reliquien zu vermeiden und andererseits die Zuständigkeit über die Beurteilung von Meineid zu erlangen. Besonders Hinkmar von Reims sei darum bemüht gewesen, den Eid der Laien von dem »Versprechen« der Bischöfe gegenüber dem König abzugrenzen. Welchen Stellenwert der Eid für den Erzbischof hatte, kann der Verfasser auch am periurium-Dossier zeigen, das in drei verschiedenen Dokumenten begegnet. Einen Vorschlag von Letha Böhringer aufgreifend, sieht er den Anlass für die Kompilation des Dossiers in der Invasion Ludwigs des Deutschen im Jahr 858, weil es Hinkmar darin vor allem um die Bewertung königlicher Eidbrüche gegangen sei.
Weitere Glanzpunkte des Buches sind die Ausführungen zu den neuen Eidformularen bei Regino von Prüm, zur Veränderung des Treueidformulars und zu den Hintergründen der Kanones zum Eidbruch im Konzil von Hohenaltheim. Der Verfasser bewegt sich immer auf der Höhe des Forschungsstands und zeigt seine Belesenheit weit über das engere Kernthema hinaus. Das Spektrum an herangezogenen Quellen ist beeindruckend, und man muss schon weit suchen, um nicht berücksichtigte Quellen zu finden (wie Jonas von Orléans, »De institutione laicali« II c. 25 und Pseudoisidor, Ps.-Cornelius, Jaffé³ † 226). Nicht jeder Leser mag vielleicht mit dem düsteren Bild der späten Karolingerzeit in jeder Hinsicht einverstanden sein: Urteile über eine »gespaltene Gesellschaft«, über »Auflösungserscheinungen« und über die Implosion der Gesellschaft fließen dem Verfasser mitunter allzu leicht in die Feder. Insgesamt erhält man aber eine profunde Studie über ein bislang vernachlässigtes Thema, das kaum eine Quelle unberücksichtigt lässt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Karl Ubl, Rezension von/compte rendu de: Heiko Behrmann, Instrument des Vertrauens in einer unvollkommenen Gesellschaft. Der Eid im politischen Handeln, religiösen Denken und geschichtlichen Selbstverständnis der späten Karolingerzeit, Ostfildern (Jan Thorbecke Verlag) 2022, 480 S. (Relectio. Karolingische Perspektiven, 4), ISBN 978-3-7995-2805-4, EUR 55,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94503