Der Haupttitel des Bandes lässt an ein Lehrbuch des Kirchenrechts bzw. zu dessen Geschichte denken, doch verfolgt David d’Avray ein gänzlich anderes Ziel als die Vermitttlung kanonistischer Grundlagen von der ersten päpstlichen Dekretale des Papstes Siricius bis zur Dekretalensammlung »Liber Extra«, die Gregor IX. im Jahr 1234 durch sein Vorwort in Geltung setzte. Vielmehr zielt der Emeritus des University Colleges London auf die fundamentale Frage, warum sich das auf lange Sicht vom Primat des römischen Bischofs dominierte Kirchenrecht überhaupt in dieser Form entwickelte. Er bietet dazu ein zweiphasiges Verständnismodell an, das er im Untertitel andeutet: zuerst eine stärker soziologisch fundierte Betrachtung der rechtlichen und theologischen Regelung unterschiedlicher sozialer Systeme innerhalb der spätantiken christlichen Kirche und dann die Wiederaufnahme dieser römischen Regelungskompetenz in dezidiert juristischer Perspektive durch die fortschreitend hierarchisch strukturierte Papstkirche des Hochmittelalters.

Das Inhaltsverzeichnis lässt in seinen 18 Kapiteln diese beiden Achsen der Betrachtung nicht deutlich erkennen, es bildet in seinem chronologischen Voranschreiten aber die jeweils zentralen thematischen Vertiefungspunkte der Argumentation ab. Sie fungieren für d’Avray als Laboratorien, in denen er zeitgebundene Uneindeutigkeiten im kirchlichen System oder gar Kontroversen ebenso exemplarisch vorführt wie deren Lösung und vor allem die Zuschreibung der Lösungskompetenz an den römischen Bischof. Konkret zeigt er, dass soziale Gruppen wie Diözesanklerus und Mönche, die zuvor nebeneinander bestanden und je eigene Welten bildeten (Kap. 7), in der Qualität ihres Status klarer bestimmt und dadurch zu geregelten, interaktionsfähigen Subsystemen der Kirche als Einheit geformt wurden. Diese fand im römischen Bischof zunehmend ihr Ziel: das dem kaiserlichen Recht nachgebildete Reskriptwesen diente dabei als Instrument, die Anfragen an Rom zu knüpfen und dessen Direktiven in den lokalen Gemeinschaften zu verankern (S. 20–25). Die zahlreichen Ungewissheiten in theologischen Fragen, etwa nach der Gnade (Kap. 4), dem Taufritual (Kap. 5), bei konfligierenden Hierarchien oder in der theologisch wie juristisch brisanten Problematik der Häresien und ihrer Abgrenzung vom rechten Glauben (Kap. 8–9), erhielten auf diese Weise im römischen Bischof einen autoritativen Fluchtpunkt.

Mit Leo I. trat diese Entwicklung auf eine neue Stufe. Er machte die Festlegungen seiner Vorgänger, die er im Archiv fand, weit intensiver als vorher bekannt und erläuterte sie, um ein verbindliches organisatorisches Fundament zu legen (Kap. 10). Auf ihn folgten die ersten Dekretalensammlungen, von denen, so der Verfasser, die des Dionysius Exiguus (»Collectio Dionysiana«) als erste das Recht von den theologischen Disputen zu trennen begann. Über weitere dieser Kompilationen schlägt d’Avray die Brücke in die Karolingerzeit. Papst Hadrian I. präsentierte Karl dem Großen im Jahr 774 die »Dionysiana« als verbindliche Kirchenrechtssammlung. Diese »Collectio Dionysio-Hadriana« ist einer der drei Pfeiler, auf denen die hochmittelalterliche Rezeption des spätantiken Kirchenrechts und damit der Ausbau des päpstlichen Jurisdiktionsprimats ruhte. An ihrer Seite stehen die im 9. Jahrhundert zusammengestellten pseudoisidorischen Dekretalen und schließlich das »Decretum« Bischof Burchards von Worms vom Beginn des 10. Jahrhunderts (Kap. 13).

Mit dem Sprung in die Zeit der sogenannten »papstgeschichtlichen Wende« (Rudolf Schieffer) zur Mitte des 11. Jahrhunderts gelangt der Verfasser zur zweiten Phase seines Entwicklungsmodells. Hier erfolgte der gezielte Rückgriff auf das alte Recht – nicht zuletzt, weil das Klerikerideal der Spätantike angesichts der hochmittelalterlichen Realitäten Attraktivität zu entfalten vermochte (S. 169). Das Aufgreifen der Themen Zölibat, Simonie und Laieneinfluss erfolgte allerdings unter den Vorzeichen wachsender Spannungen zwischen weltlicher und geistlicher Sphäre, die den anfangs kooperativen Reformwillen in ein »polemisches Kirchenrecht« (S. 188) der Zeit Gregors VII. verwandelte.

Der inhaltlich bestimmte Rückgriff auf die erste, spätantike Phase des Kirchenrechts wurde schnell methodisch transformiert durch die aufkommende Scholastik, die versuchte, aus den alten Autoritäten ein Gebäude widerspruchsfreier Aussagen und systematischer Ordnung zu errichten und zugleich die Tradition an die veränderten strukturellen und gesellschaftlichen Umstände anzupassen. Der Verfasser postuliert an dieser Stelle eine Trennung der spekulativen Theologie und der sakramentalen Kirche von der Jurisprudenz (S. 195), die sich am ehesten noch eine gewisse Nähe zur praktischen Ethik bewahrte.

Damit gelangt das Buch zugleich zur Frage der juristischen Professionalisierung, in deren Verlauf die Dekretalen als gewaltige Welle päpstlicher Einzelfallentscheidungen immer stärker in die Hände systematisierender Interpreten gelangten (Kap. 15). Die Kapitel 16 bis 18 pointieren anhand von Konversion, Wiederverheiratung, niederem Klerus und Bischofserhebungen die Wiederaufnahme und Anpassung alter Regelungen an neue, hochmittelalterliche Konstellationen. Sie illustrieren damit die Kernthese des Buches, dass die päpstliche Regelungsgewalt sich aus dem Klärungs- und Harmonisierungsbedürfnis unterschiedlicher Subsysteme speiste und sich in zwei wesentlichen Schüben vollzog – als Kirchenrecht im engeren Sinne im 6. Jahrhundert beginnend und durch die Veränderungen des Hochmittelalters neu akzentuiert.

Eine Auswahlbibliografie und ein Index komplettieren den Band, ebenso drei Anhänge mit intensiv bearbeiteten Quellenauszügen. Besonders bemerkenswert ist ein vierter Anhang mit »conceptual sources«, einer prägnanten Liste insbesondere soziologischer und politikwissenschaftlicher Arbeiten von Luhmann bis Pocock, die David d’Avray zur theoretisch fundierten Ordnung seiner Beobachtungen, Textexegesen und Strukturierungsvorschläge anregten. Es ist wohltuend, dass man dieses Fundament beim Lesen durchgehend spürt, ohne dass die Theorien selbst ständiges Thema der Darstellung sind.

David d’Avray unterstreicht einmal mehr die Bedeutung, die das 6. und das 11./12. Jahrhundert für den Zuwachs juristischer Wirksamkeit der römischen Bischöfe besitzen. Aber er fragt weit deutlicher als üblich nach den Gründen dieser beiden Entwicklungsschübe und identifiziert dabei die aus den gesellschaftlichen Realitäten resultierenden Notwendigkeiten als wesentliche Triebkräfte. Mit der Normierung der Kirche in der Spätantike, die in einer Vielzahl sozialer Gruppen bestand, korreliert er die forcierte Rückbesinnung auf traditionelle Vorgaben, die nun in gewandelte Wirklichkeit zu übersetzen waren. Sie ließen die Päpste in die Rolle von Entscheidern hineinwachsen. Das von ihnen gewiesene und gesetzte Recht wurde zur verbindlichen Leitlinie, am Ende befördert durch die Entwicklung einer eigenen Wissenschaft, die mit der Theologie zwar die Methode teilte, nicht mehr aber den Gegenstand.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Harald Müller, Rezension von/compte rendu de: David L. d’Avray, Papal Jurisprudence, 385–1234. Social Origins and Medieval Reception of Canon Law, Cambridge (Cambridge University Press) 2022, XI–320 p., ISBN 978-1-108-47300-2, GBP 75,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94511