Die Geistes- und Kulturgeschichte der Karolingerzeit fiel lange Zeit dem Verdikt anheim, dass diese Epoche einen Wert allein als Flaschenhals für die Überlieferung der Antike hatte und kaum zu eigenständigen Schöpfungen imstande war. Dieses Urteil wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch Forschungen zur Technik der kreativen Kompilation in Theologie, Historiografie, Recht und Predigt grundlegend revidiert. In der Einleitung zum vorliegenden Band wird die Aussage von John Contreni, die Karolinger seien trotz ihrer selbst (»despite themselves«) innovativ gewesen, zustimmend zitiert. Doch den Autoren, die sich 2017 bei einer Tagung an der University of Tennessee trafen, geht es nicht nur darum, die Zeit des 9. Jahrhunderts als Zeit des Experimentierens in den Blick zu nehmen, sondern zugleich durch neue Fragestellungen und neue Methodologien Raum für wissenschaftliches Experimentieren zu geben. Aus dieser Zielsetzung ist ein abwechslungsreicher Band geworden, in dem weniger altbekannte Themen als scheinbar randständige und wenig erforschte Fragestellungen im Mittelpunkt stehen.
Der erste Teil befasst sich mit »Structures Familiar and Otherwise« und beginnt mit einer erhellenden Studie zur männlichen Kindheit von Valerie L. Garver, die aus einer bunten Collage von Quellen auf eine längere Adoleszenz bei Knaben im Vergleich mit Mädchen schließt. Paul Edward Dutton stellt verschiedene Experimente mit Eheschließungen innerhalb der karolingischen Familie gegenüber und akzentuiert die ebenso konsequente wie erfolgreiche Familienplanung Karls des Großen. Abigail Firey wendet sich gegen das dominante Narrativ der Kirchenrechtsforschung, das die kreative Jurisprudenz des 12. Jahrhunderts mit den monotonen Sammlungen des Frühmittelalters kontrastiert. Firey weist dagegen auf die pragmatische Haltung der karolingischen Gelehrten hin, die ein höchst effektives Experiment ermöglicht hätte: die Symbiose von kaiserlichem Hof und karolingischem Episkopat in einer »theokratischen« Ordnung. Anne Latowsky vergleicht die Darstellungen der Niederlage von Roncesvalles in der Historiografie der Zeit Ludwigs des Frommen: Während Einhard die Niederlage nutzt, um Karl zum erhabenen Augustus zu stilisieren, dient die Anekdote den Biografen Ludwigs dazu, ihn durch seine Eroberung von Barcelona in noch hellerem Lichte erstrahlen zu lassen. Matthew Gabriele zeigt, dass trotz der kompilatorischen Technik die Exegese von Daniel 2, 21 bei Hrabanus Maurus und Haimo von Auxerre sehr unterschiedlich ausfällt: Während Hrabanus an die Wiedererrichtung königlicher Gewalt in Zeiten der Krise glaubt, verschiebt Haimo den Fokus vom König auf die Bischöfe und Fürsten. Andrew Romig analysiert eindringlich die rätselhafte Darstellung eines Kampfes zwischen Vogelscharen in einem Brief Theodulfs von Orléans an Modoin von Autun. Möglicherweise sei es Theodulf nicht um eine konkrete allegorische Aussage gegangen, sondern nur um die Veranschaulichung des Unverständnisses gegenüber den Wundern der Natur.
Der zweite Teil des Sammelbandes ist dem Kampf gegen die Sünde (»The Struggle Against Sin«) gewidmet. Der ausgezeichnet bebilderte Beitrag von Lynda Coon befasst sich mit der Darstellung von Meerjungfrauen im Sakramentar von Gellone: Diese Figuren repräsentieren weibliche Fruchtbarkeit und sind als Gegenbild zur priesterlichen Macht über die Sakramente zu verstehen. Courtney M. Booker macht auf eine Leerstelle in der Geschichte des Errötens aufmerksam: Die klassischen Untersuchungen überspringen in der Regel das Frühmittelalter, obwohl bereits bei Ratramnus von Corbie die Fähigkeit des Errötens als Distinktionsmerkmal des Menschen gegenüber Tieren identifiziert wurde. Martha Rampton fragt nach der geringen Bedeutung von Dämonen in der Literatur der Karolingerzeit und sieht darin eine Folge des moralischen Diskurses der christlichen Reform, der dazu geführt habe, dass die Gelehrten nicht Dämonen, sondern die Sündhaftigkeit der Menschen für das Unglück in der Welt verantwortlich machten. Zuletzt analysiert Matthew Bryan Gillis das Klagegedicht des Florus von Lyon über die Teilung des Reiches (»Querela de divisione imperii«) Strophe für Strophe und schreibt dem Text vor dem Hintergrund der Prädestinationslehre des Autors einen transformativen Charakter zu: Die Leser des Textes sollten sich als Teil einer kleinen Gemeinde der Erwählten erkennen, die sich von der Schlechtigkeit der Welt des Bürgerkrieges abwenden.
Insgesamt bezeugt der Sammelband die Lebendigkeit der Karolingerforschung jenseits des Atlantiks und liefert wichtige Bausteine für eine neue Kulturgeschichte des 9. Jahrhunderts. Es ist zu hoffen, dass der Band den Anlass dafür gibt, eine dringend notwendige Synthese zu schreiben, um die Erkenntnisse der jüngsten Forschung zu bündeln und ein neues Gesamtbild des karolingischen »Experimentierens« vorzulegen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Karl Ubl, Rezension von/compte rendu de: Matthew Gillis (ed.), Carolingian experiments, Turnhout (Brepols) 2022, 300 p. (Medieval and Renaissance Studies, 1), ISBN 978-2-503-59410-1, EUR 85,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94520