Das Schönste an diesem Buch ist die Sprache, man kommt nicht los von ihr und liest immer weiter. Kaum hat man eine glückliche Formulierung hervorgehoben, folgt schon die nächste. Doch Stoffbeherrschung und Gedankenführung beeindrucken nicht minder. Sie dürften den Ausschlag gegeben haben, dass dieses Buch einer Mediävistin und studierten Biologin den Preis für eines der besten Sachbücher des Jahres 2021 erhalten hat. Kaum ein Jahr später liegt es schon in fünfter Auflage vor.

Doch worum geht es, warum verlangt dieses Buch eine längere Rezension? Weil hier endlich ein großer Beitrag die Debatte um Nachhaltigkeit historisch aufklärt und dies nicht nur im Rahmen der letzten 50 oder 200 Jahre geschieht, sondern in der Perspektive der longue durée. Bevorzugt wird die Zeit des späteren Mittelalters, aber auch die jüngeren Jahrhunderte kommen zur Geltung, und immer wieder erinnern zupackende Formulierungen an die Erscheinungen der eigenen Zeit. Hinzu kommt oft die Frage nach dem Wann, dem Zeitpunkt, der Periode, in der die Menschen Westeuropas verlernten, die langfristigen Folgen ihres nach Effizienz und Gewinnmaximierung strebenden Denkens zu berücksichtigen. Wie man leicht erahnt, war das zunächst die Zeit des großen Aufschwungs von Technik und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Noch stärker ins Visier geraten jedoch die letzten 50–60 Jahre, die Zeit des unersättlichen Wachstums von Produktion, Konsum und sogenannter Finanzindustrie, unterstützt von einer immer einseitigeren ökonomischen Theorie, in der rascher Gewinn und Kosteneinsparung dominierten.

Von Wirtschaft ist deshalb am meisten die Rede. Aus Sicht der älteren Geschichte erfreut dabei die Perspektive, dass die Forschung hier ein weites unbearbeitetes Feld entdeckt hat und viel Verstreutes aus Sammelbänden zusammenfindet. Der Verlag hat aus dem gelehrten Werk zwar zuvörderst ein anziehendes Lesebuch gemacht und wie üblich die Anmerkungen, die Fundorte der Aussagen, kleingedruckt in den hinteren Teil des Bandes verbannt, aber dieser Teil ist unverzichtbar. Die 444 zum Teil ausführlichen Nachweise und Erörterungen der Anmerkungen zeigen die lange wissenschaftliche Vorbereitung dieses Buches, etwa zeitgleich mit den Auswüchsen der Wachstumsökonomik, denn wie bekannt erschien schon 1972 die erste große, auch viel beachtete Studie des Club of Rome, rasch gefolgt von vielgelesenen Analysen eines Barry Commoner (»Energieeinsatz und Wirtschaftskrise« [1976]), eines Ivan Illig, des Ökonomen Ernst Friedrich Schumacher, einer Elinor Ostrom und vieler anderer bis hin zu dem ungeheuer produktiven Jean Piketty. In derselben Zeit, in der Stille und weit verstreut, erarbeiteten Historiker der älteren Perioden die Grundlagen, auf denen Annette Kehnel aufbaut.

Ihr Programm heißt »Historischer Weitblick statt gegenwartsfixierter Kurzsichtigkeit«. Man merkt bald, dass es hier kämpferisch zugeht und unsere gewohnten Sichtweisen nicht geschont werden. Viel steht infrage: Waren wir arm vor der Erfindung des Kapitalismus (Hauptteil 1)? Mussten unsere Vorfahren nur von morgens bis abends schuften? Gab es kaum Feiertage? Dann die Fragen nach Wann und Woher: Woher stammt der angeblich ganz neue Gedanke des Sharing von Quartierautomobilen und anderem? Kommt er nicht aus der älteren Praxis von Gemeingut (Allmende) und deren verantwortlicher Nutzung? Woher der wirtschaftliche Erfolg der auf Gemeinschaftsbesitz verpflichteten älteren Klöster bis hin zu den Zisterziensern? Ihr Erfolg war an Regeln gebunden, die Regel Benedikts, die Regel des Augustinus, die Regeln der (nichtklösterlichen) Frauengemeinschaften in den Beginenhöfen.

Recycling lautet das nächste große Stichwort. Es steht in Verbindung mit dem lästigen Reparieren, das wir uns abgewöhnen sollten. Gewiss muss man einzelne Perioden der Wegwerfmentalität und des Verpackungsluxus schon in der fernen Vergangenheit suchen, so etwa bei dem Schuttberg Testaccio mit seinen aufgetürmten Resten zerbrochener Amphoren aus der römischen Kaiserzeit. Aber Annette Kehnel hat recht, in den weitesten Abschnitten der Menschheitsgeschichte ging es um möglichst vollständige Nutzung der verfügbaren Ressourcen. Alles war wertvoll, Fell und Knochen des Mammuts so gut wie Knochen und Haut des Walfisches. Auf 55 Seiten plus Anmerkungen ist dazu unendlich viel zusammengekommen. Das Wort »Abfall« (S. 122f.) hat eine erstaunliche Sinnverschiebung erfahren. Ist Papier ein Recyclingprodukt? Ja, wenn es aus aufgearbeitetem heutigem Holzzellstoff besteht, aber noch mehr, wenn es aus Lumpen hergestellt wurde (13.–18. Jahrhundert). Papier aus Lumpen entsprach der besseren Qualität, aber Lumpenmangel wurde mehr und mehr zum Problem, sodass Mozarts Vater sich sorgte, Papiermangel könne den Druck seiner Kompositionen verhindern (S. 152). Und dann kam Johann Christian Schäffer, der Da Vinci von Querfurt, Pastor mit 23 Jahren, vielseitiger Erfinder und Experimentator mit Niedrigenergieöfen wie mit Holzpapier, um dem Mangel an Lumpen abzuhelfen. In Montpellier experimentierte um dieselbe Zeit Léorier Delisle mit Papier aus Stroh, in London Matthias Koops ebenfalls, während in Kröllwitz bei Halle der etablierte Papiermüller Keferstein von solchen Neuheiten nichts wissen wollte, gefolgt von vielen anderen auch in Ministerien, die lange für die erneuerbaren Energien »wenig Handlungsbedarf« sehen wollten.

Die drei folgenden Hauptteile bringen Einblick in das Verständnis des Geldes, von der schlichten Auffassung des Aristoteles bis zu frühen Einsichten unter dem Eindruck der kommerziellen Revolution des späteren Mittelalters und der Entstehung der Kreditwirtschaft. Es geht um Geld, an dessen Fehlen angeblich so vieles scheitern muss, was als Kredit unendlich viel ermöglicht, im Kleinen (Mikrokredit) wie im Großen: Initiative des Einzelnen wie etwa des jungen Bénezet in Avignon am Ende des 12. Jahrhunderts, dessen Überzeugungskraft die Bürger motivierte, genügend Geld für den Bau des berühmten pont d’Avignon bereitzustellen; Geld, das jahrhundertelang ohne Gewinnorientierung hier wie anderwärts von Brückenbruderschaften verwaltet wurde. Langfristig investiertes Geld nicht für das Ranking der reichsten Einzelpersonen dieser Welt, sondern zur Überwindung von Armut als Folge der neuen Geschäftspraktiken des späteren Mittelalters. Besonders in den aufblühenden Städten Italiens. Dort entstehen die zahlreichen Monti di Pietà, nach neuerer Forschung nicht zur Versorgung der Bettler gedacht, sondern zur Sicherung des Fortbestehens von in Not geratenem Handwerk. Die neuerlich in Indien gegründeten Mikrokreditbanken des Nobelpreisträgers Muhammed Yunus (2006) sind nicht die ersten dieser Art. Kehnel insistiert auf der langfristigen Funktion der Monti, sie überlebten wie der bekannte Monte di Pietà di Siena bis weit ins 20. Jahrhundert.

Ich übergehe vieles. Der letzte Hauptteil, bevor das Buch in eine kraftvolle Zusammenfassung ausmündet, steht unter dem Begriff des Minimalismus. Gemeint ist »Small is beautiful«, 1973 Titel des Buches des einflussreichen deutschen Emigranten Ernst Friedrich Schumacher, an das ein Sammelband »All we need is less«, 2020 herausgegeben von Manfred Folkers und Niko Paech, anschließt. Doch die Minimalismus-Bewegungen sind viel älter. Annette Kehnel erzählt die Geschichte des Diogenes von Sinope und seiner Schule, danach das nicht minder erstaunliche Wirken des mittelalterlichen Diogenes, Franz von Assisi, das in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ausmündete in ein aktives Einwirken der Bettelmönche auf die wirtschaftlichen Vorstellungen vom langfristigen Umgang mit Geld, Geld auch der reichen Handelsherren. Diese Herren beugten sich der Einsicht, dass langfristig investiertes Geld ihrem eigenen Nutzen im Jenseits dienen werde, zuvor aber auch, klug bedacht, ihrem eigenen Erfolg und dem ihrer Erben im Diesseits nutzen werde. Den Predigten der Minderbrüder in Städten und auf Märkten kommt in diesem Sinn erhebliches Interesse zu. Als der »aufregendste und produktivste aller mittelalterlichen Volkswirtschaftstheoretiker« gilt Petrus Johannis Olivi aus Narbonne. Lange wenig beachtet hat ihm vor allem Giacomo Todeschini zu neuer Geltung verholfen, neuerlich auch Christian Rode 2016 mit einem Beitrag »Die Geburt des Kapitalismus aus dem Geist der franziskanischen Armenbewegung«. Olivi glaubte nicht der Ansicht des Aristoteles, Geld könne sich nicht vermehren, das sei wider die Natur. In der Praxis des Wirtschaftslebens seiner Zeit beobachtete er die Vermehrung des Geldes durch Kreditvergabe und wurde zum Finanzexperten wie mancher andere Minderbruder in Italien, dem man die Kontrolle über öffentliche Finanzen anvertraute. Olivis Traktat über Kauf und Verkauf entwickelte eine neue, durchaus moderne Preistheorie (S. 355–376).

Kehnels Buch sollte übersetzt werden. Es ist das Produkt eines Mannheimer DFG-Projektes zu »Kleinheit und Marktteilhabe in der Geschichte«, von vielen Helfern zusammengetragen, von der Autorin zügig und mitreißend geschrieben. Sie charakterisiert es als die Gesamtleistung ihrer Equipe, nennt ihre Mitarbeiter Tanja Skambraks und Stephan Nicolassi-Köhler als bereits erfolgreiche Nachwuchsforscher in der mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte. Ein fast erlahmter Forschungszweig gewinnt neue Flügel. Dabei hat sich die alte Kaderschmiede für liberale Wirtschaftstheorie und gewinnorientierte Betriebswirtschaft in Mannheim gewaltig gewandelt. Sie verfügt heute als Universität über einen eigenen Lehrstuhl für Nachhaltiges Wirtschaften. Der Kontakt mit ihm ist auch dem mutigen Buch von Annette Kehnel zugutegekommen. Einziger Schmerzpunkt: Die gut gewählten Abbildungen sind vorzüglich beschrieben, aber minderer Qualität.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Dietrich Lohrmann, Rezension von/compte rendu de: Annette Kehnel, Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit, München (Blessing Verlag) 2021, 486 S., s/w Abb., ISBN 978-3-89667-679-5, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94528