Auf den ersten Blick glaubt man, einem »titre trompeur« aufgesessen zu sein, der keineswegs die mit dem Titel verbundenen Erwartungen eines biografischen Überblicks erfüllt. Er steht auch nicht für eine »haute vulgarisation« des Themas, bietet also keine Darstellung, die den Leser auf eine anschauliche Reise in das Frankreich Philipps des Schönen um 1300 mitnehmen würde. Manche Fakten und Facetten seiner Regierung werden nur kurz oder gar nicht gestreift, als Handbuch und Examensvorbereitung eignet sich der Band mithin nur bedingt. Und schließlich ist das Ganze nach gut 150 Seiten bereits zu Ende – Autoren wie der Philipp-Biograf Jean Favier hätten sich da gerade einmal warm geschrieben. Obendrein scheint Krynen sein Lieblingsthema der Formung von Königsstaat und -nation Frankreich im Mittelalter nur zu variieren, diesmal aber am Beispiel einer einzigen, besonders aussagekräftigen Herrschaft.

Mit dieser Wahl allerdings verbindet er einen luziden und profunden Einblick in die französische Geschichte über Philipp hinaus bis weit in die Neuzeit hinein. Zunächst geht es, wie gesagt, treffend-konzis und stilistisch prägnant, im Anschluss an frühere Forschungen um die Genese des auf das Königtum zentrierten Staatsauf- und -ausbaus im Konnex mit der Entfaltung von Wissen und Wissenschaft. Aus diesem sich auch in der Architektur der Hauptstadt manifestierenden Macht- und Prestigezuwachs resultierte jene spektakuläre »alliance de la puissance et de la connaissance« (S. 64), die aus dem regnum Francorum ein regnum Franciae werden ließ, für dessen Spitze fortan bis ins frühe 19. Jahrhundert galt: »Le roi est empereur en son royaume« (S. 78). Wesentlich getragen wurde diese Entwicklung von den Mitgliedern der zentralen Institutionen, der »grands corps de l’État,« und einer Vielzahl von Amtsträgern bis tief in die Provinzen hinein. Pierre Dubois ist dafür nur ein, wenn auch spektakuläres Beispiel (S. 136–143). Sie leitete ein »haut degré de conscience étatique, une obsession de l’intérêt collectif et de la continuité du pouvoir, qui caractérisa, jusqu’au temps des Colbert et des d’Aguesseau, les serviteurs de l’État monarchique« (S. 63f.).

In einer solchen Welt kam der Kirche nurmehr eine König und Reich dienende Funktion zu; der Herrscher und seine Räte agierten dabei, etwa in ihrem Kampf gegen den Templerorden, keineswegs als Feinde der Kirche, das Vorgehen gegen die heretica pravitas war vielmehr oberstes Gebot für einen rex christianissimus wie für die Nogaret, Plaisians und ihresgleichen: »La purification du royaume les obsède« (S. 110). Die vielbeschworenen »libertés de l’Église gallicane« basierten hier wie allgemein auf Gehorsam und Willfährigkeit des Klerus gegenüber der Krone. Solche Feststellungen treffen sicher zu, doch dürfte gerade Krynen als Rechtshistoriker des französischen Südens nur zu gut wissen, dass es etwa bei Bischofsernennungen fall- und phasenweise auch durchaus Einvernehmen und Ausgleich zwischen Ortskirchen, Krone und Papst gab; dass Monarchen wie Karl VII. oder Ludwig XI. gallikanische Grundgesetze wie die »Pragmatische Sanktion von Bourges« ignorierten, wenn es ihren Interessen entsprach. Ja, es stimmt schon: »L’Église au pied du trône« (S. 100); doch man kannte sich und konnte sich gegebenenfalls arrangieren.

Dann aber der Paukenschlag zum Schluss, und zwar gleich mit de Gaulle: »La France n’est réellement elle-même qu’au premier rang«; … »la France ne peut être la France sans grandeur« (S. 117). Über Philipp den Schönen weitet und vertieft sich der Blick auf bzw. in eine durch die Zeiten wirkmächtige französische Identität. Gibt es tatsächlich so etwas wie einen französischen Nationalcharakter, zu dessen Formung Philipp und seine Legisten entscheidend beitrugen, im Übrigen nicht unbedingt stets zur Freude der Nachbarn? Über das Buch verstreut finden sich mehrfach kluge Anmerkungen zur französisch-deutschen Problematik in diesem Kontext. Wer einen vergleichenden Blick auf das römisch-deutsche Reich des Mittelalters wirft, wozu sich jetzt – allerdings mit gewissem Akzent auf frühere Zeiten – Ausstellung und Katalog »Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht« (Mainz 2020/21) gut eignen, könnte angesichts der fundamentalen Strukturunterschiede (samt Folgen für beide Nationalgeschichten) für Frankreich den eigentlich clichéhaft anmutenden Untertitel des vorliegenden Bands »La puissance et la grandeur« für bare Münze nehmen. Doch unser klug und nüchtern abwägender Autor weiß die Dinge treffend auf den Schlusspunkt zu bringen: »L’ancienne France ne peut se passer de se voir et de se penser plus grande que les autres nations. Celle de la Révolution, celle de Napoléon, celle de de Gaulle ne le pourront non plus« (S. 148). Ein schmaler Band, ein großes Werk, das weit über sein eigentliches Thema hinaus über Frankreichs Geschichte nachdenken lässt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Heribert Müller, Rezension von/compte rendu de: Jacques Krynen, Philippe Le Bel. La puissance et la grandeur, Paris (Gallimard) 2022, 152 p. (L’esprit de la cité. Des hommes qui ont fait la France), ISBN 978-2-07-269657-2, EUR 17,00., in: Francia-Recensio 2023/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94529